Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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„Sie urtheilen sehr richtig und sehr schonungslos,“ sagte er langsam. „Haben Sie sich denn schon einmal gefragt, was mich hart gemacht hat? Es gab doch eine Zeit, wo ich es nicht gewesen bin, wenigstens gegen Sie nicht, wo ein Wort, ein Blick mich lenken konnte, wo ich mich geduldig selbst jeder Laune beugte. Sie hätten damals viel aus mir machen können, Wanda, vielleicht Alles. Daß Sie es nicht wollten, daß mein schöner ritterlicher Bruder schon damals bei Ihnen den Preis davontrug, war am Ende nur natürlich, was hätten Sie denn auch mit mir anfangen sollen! Aber Sie begreifen doch wohl, daß das ein Wendepunkt in meinem Leben gewesen ist, und wer da kein Talent hat zum Unglücklichsein, wie ich zum Beispiel, der wird hart und argwöhnisch. Jetzt freilich halte ich es für ein Glück, daß die Jugendschwärmerei so jäh zerrissen wurde, meine Mutter wäre sonst sicher auf den Gedanken gekommen, uns das Drama wiederholen zu lassen das vor einigen zwanzig Jahren hier spielte, als ein Nordeck eine Morynska heimführte. Sie hätten sich als sechszehnjähriges Mädchen vielleicht auch dem Familienwillen unterworfen und ich – das Schicksal meines Vaters getheilt. Davor sind wir Beide bewahrt geblieben, und jetzt ist das ja alles längst versunken und vergessen. Ich wollte Sie nur daran erinnern, daß Sie kein Recht haben, mir Härte vorzuwerfen oder mich anzuklagen, wenn diese Härte sich gegen Sie und die Ihrigen wendet. – Darf ich Sie jetzt nach der Försterei begleiten?“
Wanda fügte sich schweigend seiner Aufforderung; so gereizt und kampfbereit sie ihm auch im Anfange gegenüberstand, die Wendung, die das Gespräch schließlich nahm, hatte ihr die Waffen aus der Hand gewunden. Sie schieden auch heute als Feinde, aber sie fühlten Beide, daß der Kampf zwischen ihnen von dieser Stunde an ein anderer geworden war – vielleicht war er darum nicht leichter geworden.
Nebel athmend wie vorhin lag die Wiese, dichter und dichter umsponnen von den trüben Schatten der Dämmerung. Ueber dem See schwebte noch die weiße Wolke, aber jetzt war sie nur noch ein formlos zerfließender Nebel; das Traumbild, das ihr entstieg, war wieder versunken, ob auch vergessen – das konnten nur die Beiden wissen, die jetzt so wortlos neben einander hinschritten. Hier in den herbstlich öden Wäldern, in der unheimlichen Dämmerstunde hatte sie der Hauch der alten Meeressage aus dem fernen Norden umweht und ihnen wieder ihre Prophezeiung zugeflüstert. „Wer Vineta nur einmal geschaut hat, den läßt die Sehnsucht danach nicht wieder ruhen sein Lebenlang, und müßte sie ihn auch hinabziehen in die Tiefe.“
Die beiden Zimmer, welche Doctor Fabian im Schlosse bewohnte, lagen nach dem Parke hinaus, etwas abgeschlossen von den übrigen, und es hatte damit seine eigene Bewandtniß. Als die Fürstin die bisher unbewohnten Zimmer ihres ersten Gemahls für dessen Sohn in Bereitschaft setzen ließ, war natürlich auch Rücksicht auf den ehemaligen Erzieher genommen, der ihn begleitete, und ein anstoßendes Gemach für diesen reservirt worden. Es war freilich etwas klein und sehr unruhig, da es unmittelbar neben der großen Haupttreppe lag, aber nach Ansicht der Dame vollkommen geeignet für den Doctor, von dem sie ja wußte, daß in Altenhof nicht viel Umstände mit ihm gemacht wurden, am wenigsten von Seiten seines früheren Zöglings. Das mußte sich aber wohl bedeutend geändert haben, denn Waldemar hatte sofort nach seiner Ankunft jenes Gemach als völlig unzureichend verworfen, sich die auf der anderen Seite gelegenen Fremdenzimmer aufschließen lassen und ohne Weiteres zwei derselben für seinen Lehrer mit Beschlag belegt. Nun war aber gerade diese Wohnung eigens für den Grafen Morynski und seine Tochter eingerichtet worden, die oft Tage und Wochen in Wilicza verweilten, was der junge Gutsherr freilich nicht wissen konnte. Als jedoch Pawlick, der jetzt die Rolle eines Haushofmeisters im Schlosse spielte, den Mund zu einer Erwiderung öffnete, trat Waldemar ihm mit der kurzen Frage entgegen, ob die betreffenden Zimmer etwa zu den Wohnräumen der Fürstin oder des Fürsten Leo gehörten, und erklärte auf die verneinende Antwort sehr bestimmt: „Dann wird Herr Doctor Fabian sie von heute an bewohnen.“ Noch an demselben Tage war der in unmittelbarer Nähe befindliche Corridor, den die Dienerschaft häufig zu passiren pflegte, abgeschlossen und der Befehl ertheilt worden, künftig den Umweg über die Treppe zu nehmen, damit das fortwährende Hin- und Herlaufen den Doctor nicht störe, und dabei war es geblieben.
Die Fürstin sagte kein Wort, als man ihr diese Vorgänge meldete; sie hatte es sich nun einmal zum Gesetz gemacht, ihrem Sohne in Kleinigkeiten niemals zu widersprechen. Sie ließ sofort andere Zimmer für ihren Bruder und ihre Nichte in Bereitschaft setzen, so unangenehm ihr der „Mißgriff“ Waldemar’s auch sein mochte, aber es war am Ende natürlich, daß sie die unschuldige Ursache desselben, den armen Fabian, nicht gerade mit freundlichen Augen ansah. Freilich zeigte sie ihm das nicht, denn sie und das ganze Schloß machten bald genug die Erfahrung, daß Waldemar in Bezug auf seinen Lehrer jetzt äußerst empfindlich war und, so wenig Rücksicht er auch für sich selbst beanspruchte, jeden Mangel derselben dem Doctor gegenüber auf das Schärfste rügte. Es war dies fast die einzige Gelegenheit, wo er sein Gebieterrecht geltend machte. Hier geschah es aber auch mit einem solchen Nachdruck, daß Alles, von der Fürstin an bis herab zu der Dienerschaft, Doctor Fabian mit der größten Aufmerksamkeit behandelte.
Das war nun freilich keine schwere Aufgabe dem stillen, immer bescheidenen und höfliche Manne gegenüber, der Niemandem im Wege stand, fast gar keine Bedienung beanspruchte und sich für jede kleine Aufmerksamkeit dankbar bezeigte. Man sah ihn nicht viel, denn er erschien nur bei Tische, brachte den ganzen Tag bei den Büchern zu und war Abends meist bei seinem ehemaligen Zöglinge, mit dem er sehr vertraut zu sein schien. „Es ist der einzige Mensch, auf den Waldemar überhaupt Rücksicht nimmt,“ sagte die Fürstin zu ihrem Bruder, als sie ihn von dem Umtausch der Zimmer benachrichtigte. „Wir werden diese Laune wohl respectiren müssen, wenn ich auch nicht begreife, was er an diesem langweiligen Erzieher hat, den er früher so vollständig bei Seite setzte und den er jetzt förmlich auf Händen trägt.“
Wie dem nun auch sein mochte, die vollständige Aenderung des früheren Verhältnisses hatte einen unverkennbaren Einfluß auf Doctor Fabian ausgeübt. Seine Schüchternheit und Bescheidenheit waren ihm zwar geblieben; sie lagen zu tief in seiner Natur begründet, aber das Gedrückte, Aengstliche, das ihm sonst anhaftete, hatte sich zugleich mit der gedrückten Stellung verloren. Sein Aussehen war um Vieles kräftiger und frischer als ehemals; der mehrjährige Aufenthalt in der Universitätsstadt, die Reisen mochten das Ihrige dazu beigetragen haben, aus dem kränklichen, scheuen und zurückgesetzten Hauslehrer einen Mann zu machen, der mit seinem immer noch blassen, aber angenehmen Angesichte, seiner leisen, aber wohllautenden Stimme einen durchaus günstigen Eindruck machte und dessen eigene Schuld es war, wenn seine Schüchternheit ihm nicht erlaubte, sich irgendwie zur Geltung zu bringen.
Der Doctor hatte Besuch, ein bei ihm seltenes Ereigniß. Neben ihm auf dem Sopha saß Niemand anderes als der Herr Regierungsassessor Hubert aus L., diesmal aber augenscheinlich in der friedfertigsten Absicht und ohne jede Verhaftungsideen. Jener fatale Irrthum war es ja gerade, der die Bekanntschaft einleitete. Doctor Fabian hatte sich als einziger Freund und Tröster gezeigt in dem Mißgeschick, das über den Assessor hereinbrach, als die Sache bekannt wurde, und das geschah nur zu bald. Gretchen war „herzlos genug gewesen“, wie Hubert sich ausdrückte, sie mit allen Details ihren Bekannten in L. preiszugeben. Die Geschichte von der projectirten Verhaftung des jungen Gutsherrn von Wilicza machte die Runde durch die ganze Stadt, und wenn dem Herrn Präsidenten auch nicht amtlich darüber Vortrag gehalten wurde, so erfuhren Seine Excellenz sie doch, und der allzu eifrige Beamte mußte eine scharfe Mahnung hinnehmen, künftig vorsichtiger zu sein und, wenn er wieder verdächtige polnische Emissäre suche, nicht an die deutschen Großgrundbesitzer der Provinz zu gerathen, deren Haltung gerade jetzt von entscheidender Wichtigkeit sei. Auch in Wilicza war die Sache bekannt geworden. Waldemar selbst hatte sie der Fürstin erzählt; die ganze Umgegend wußte davon, und wo sich der arme Assessor nur blicken ließ, mußte er versteckte Anspielungen oder offenen Spott hinnehmen.
Er hatte gleich am nächsten Tage Herrn Nordeck einen Entschuldigungsbesuch
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 629. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_629.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)