Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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Die Heimlichthuerei, die zopfig-verschnörkelte, unfaßbare Sprache der Gerichte ist aber nicht blos eine peinliche Unbequemlichkeit, führt nicht blos oftmals zu Benachtheiligungen der Betheiligten, sondern sie hat auch noch tiefer liegende sittliche Bedenken. Niemals wird sich bei der gegenwärtigen Geschäftsordnung ein rechtes Vertrauen zu Gesetz und Recht bei dem gemeinen Manne einbürgern. In den sprachlichen Wendungen „einen Proceß gewinnen, einen Proceß verlieren“, oder wie es in der Volkssprache heißt „verspielen“, findet sich deutlich genug ausgeprägt, daß das sprachbildende Volk eine Proceßsache mehr oder weniger als ein Glücksspiel aufzufassen gewohnt war, während doch eine einfache Klage ein rein geschäftlicher Vorgang ist.
Wie viele Rechtsstreitigkeiten um nichtige Dinge würden ferner vermieden werden, wie viel aussichtslose Appellationen an eine höhere Instanz würden unterbleiben, wenn der Geschäftsgang der Gerichte klarer, ich möchte sagen: durchsichtiger wäre! Nur die eine Hoffnung, daß er das Glück haben könne, das Gewinnloos zu ziehen, treibt oft den Menschen an, eine Klage, eine Appellation zu unternehmen, selbst wenn ihm sein gesunder Menschenverstand sagt, daß das Unrecht auf seiner Seite ist.
Man sollte überhaupt meinen, daß die streitenden Parteien berechtigt wären, für ihr Geld eine volksthümliche Behandlung ihrer Sache zu verlangen, ja daß es im Interesse der Gerichte selbst liege, auf ihrem Gebiete das Volk zur Selbstthätigkeit anzuleiten. Statt dessen zwingt die Dunkelheit der gerichtlichen Geschäftssprache dasselbe, bei der geringfügigen Sache seine Zuflucht zu einem Rechtsanwalt zu nehmen. Das ja eine neue, nicht zu rechtfertigende Besteuerung der ohnehin schon meist genug bedrängten Parteien.
Und doch sind die noch am besten daran, welche in ihrer Bedrängniß gleich an die rechte Schmiede, das heißt zu einem Rechtsanwalt gehen. Schlimmer ergeht es meist denen, welche ihre Unberathenheit einem Winkeladvocaten in die Krallen treibt. Das Geschäft dieser dunklen Ehrenmänner ist meist doppelter Art. Die unschuldigere derselben ist die Anfertigung von Klagebeantwortungen und ähnlichen Schriftstücken, sowie die Ertheilung von Rathschlägen. Sie pflegen dabei wie medicinalpfuschende Barbiere und sonstige Wunderdoctoren ihre Unwissenheit mit Erfolg hinter einigen Dutzend richtig oder falsch gebrauchten zunftmäßigen Kunstausdrücken, wie wir sie oben aufgeführt haben, zu verstecken. Die Vergütigung, welche sie dafür beanspruchen, wird meist nicht hoch sein, sich aber nicht nach einer bestimmten Taxe, sondern nach der größeren oder geringeren Unerfahrenheit des Kunden richten. Das Schlimmste, was diesem bei solcher Handhabung des Geschäfts begegnen kann, ist, daß er einen falschen Rath bekommt, oder daß seine Eingabe, wie durch neuerliche Verfügungen des preußischen Justizministeriums bestimmt wird, ganz unberücksichtigt bleibt.
Die Herren „Commissionäre“ oder „Volksanwälte“ haben aber zuweilen noch daneben eine andere Art, ihr Gewerbe zu handhaben. Ihre Beschäftigung giebt ihnen Gelegenheit, den Kunden gehörig auszufragen und sich genaue Kenntniß von seinen Vermögensverhältnissen, von seiner augenblicklichen Lage und ähnlichen Dingen zu verschaffen, welche Gelegenheit zur Einmischung in gewinnsichtiger Absicht bieten. Ist trotz der augenblicklichen Verlegenheit des Betreffenden noch etwas bei ihm zu holen, so wird er beispielsweise durch wucherische Darlehne, durch Verlockung zu leichtsinnigen Verkäufen, die dann zuweilen gegen Reugeld rückgängig gemacht werden und durch hundert andere abgefeimte Schliche gehörig hineingeritten. Entspinnt sich daraus, wie es nicht selten der Fall ist, ein Proceß zwischen dem Winkeladvocaten und dem Winkelclienten – also Habicht contra Gimpel, wie es in dem oben citirten Rechtsbeistand heißen würde, – so gewinnt gewöhnlich, vermöge seiner überlegenen Geschäftsgewandtheit, der in alle Kniffe der Rechtsverdrehung eingeweihte Ehrenmann, und der arme Gimpel wird unter dem Scheine des Rechts, ja unter dem Schutze des Gesetzes, ganz gehörig gerupft. Wer die Handlungsweise dieser Menschen, die in jedem kleinen Neste zu finden sind, erschöpfend schildern wollte, müßte ein Buch schreiben, und das Material dazu wäre nicht schwer aufzutreiben. Ein solches Buch würde ein Stück wahrer Leidensgeschichte des armen Volkes enthalten.
Es kann mir nicht einfallen, den Gebrauch von Fremdwörtern allein für dieses Unwesen verantwortlich machen zu wollen; man wird mir aber zugeben müssen, daß der Mangel an Gemeinverständlichkeit, an dem das ganze Gerichts-Verfahren noch immer krankt, ein recht treuer Bundesgenosse der unsauberen Zunft ist. Und kann es wohl einem gewissenhaften Richter gleichgültig sein, wenn er zu Ungunsten eines auf oben beschriebene Weise Hineingefallenen und zu Gunsten eines Betrügers entscheiden muß, der sich durch den Buchstaben des Gesetzes gedeckt hat?
Man darf sich nun freilich keineswegs verhehlen, daß die hier empfohlene Vereinfachung der Kanzleisprache ihre großen Schwierigkeiten haben wird. Nicht für jedes Fremdwort dürfte sich ein gleich kurzer, gleich schlagender, völlig gleichbedeutender deutscher Ausdruck finden lassen. Man wird also etwa nach der von Daniel Sanders vorgeschlagenen Regel verfahren können, wonach völlig eingebürgerte, d. h. auch dem gemeinen Manne verständliche Fremdwörter, für welche sich nicht gut ein passender deutscher Ausdruck darbietet, immerhin beibehalten werden mögen. Aber selbst dieses zugestanden, werden sich noch hunderte von gerichtlichen Kunstausdrücken oben erwähnter Art finden, welche ohne Bedenken ausgemerzt und durch gut deutsche Wörter ersetzt werden können, wenn man nur mit dem nöthigen guten Willen und mit rechtem Ernst an die Sache herantreten will.
Man wird bei etwaigen Besserungsversuchen am natürlichsten von einer reinigenden Durchsicht der sämmtlichen für den Verkehr der Behörden mit dem Volk bestimmten Formulare ausgehen. Der einzelne Beamte kann eigenmächtig gar nichts oder so gut wie gar nichts zur Steuerung des Unwesens thun. Die Sprachreinigung, die ich hier empfehlen möchte, muß unbedingt von oben herab bewerkstelligt werden, und zwar mit einem Schlage, wie bei der Post, deren geschicktes Verfahren bei Erledigung derselben Sache den mit der Aufgabe zu Betrauenden zum Vorbilde dienen könnte. Verfügungen und Erlasse der Ministerien, welche den Gerichtsbeamten anempfehlen und einschärfen, daß sie sich einer möglichst verständlichen Sprache bedienen sollen, würden wenig nützen, so lange das Unkraut noch in den Formularen wuchert. Gott bessere es!
Es ist vielfach darüber gestritten worden, welche Religion wohl am schnellsten und eindringlichsten bei plötzlich hereinbrechenden unabänderlichen Schicksalsschlägen Tröstung und Beruhigung bringt, und da ist wohl nicht ganz mit Unrecht der Islam mit seiner Lehre von der Vorherbestimmung als diejenige Glaubensgrundlage bezeichnet worden, die namentlich bei morgenländischer Welt- und Lebensanschauung diese heilbringende Aufgabe am vollkommensten löst.
Erlauben Sie, daß ich den Lesern Ihres Blattes ein Erlebniß erzähle, das sie hiervon überzeugen dürfte.
Vor ungefähr dreißig Jahren hatte mich mein jugendlicher Wandertrieb an die östliche Grenze unseres Vaterlandes geführt, und besondere Zufälle hielte mich längere Zeit in Semlin fest, wo ich nach einigen glücklichen Curen bald ein gesuchter Arzt wurde. Semlin ist eine öde kleine Grenzstadt Oesterreichs an dem Ufern der Save, die sich dort, majestätisch herangewachsen, mit der Donau vermählt. Gegenüber, jenseits der blauen Wogen stolz und malerisch emporsteigend, liegt Belgrad, die Hauptstadt Serbiens, damals noch ein türkisches Fort, der Sitz des Paschas. – Tags über war lebhafter Verkehr auf und ab, herüber und hinüber auf dem breiten Wellenrücken des Flusses. Man sah Dampfer, Fischerkähne, Fahrzeuge aller Arten und Formen bis herab zu den mit Seilen gezogenen primitiven Fähren oder Flößen, welche die Verbindung der beiden Nachbarstädte vermittelten. Die abenteuerliche Bemannung, die seltsamen Ladungen, das Sprachengewirre, das ganze Treiben bot ein Bild bunten und reichen Lebens, bis die alte Uhr auf dem Festungsthurme mit heiserem Tone den Tagesschluß (zehn Uhr) verkündete. Da war
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_650.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)