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Seite:Die Gartenlaube (1876) 867.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


stahn. Wahrlich, ich sage Ihm: Keines erdgebornen Menschen armseliges Auge, außer dem meinen, hat jemalen diese Blätter geschauet oder gelesen.“

Er entwand das Buch meinen Händen und stellte es an seinen Platz zurück, dann aber – ich muß wohl zu dieser Maßregelung ein sehr wehmüthiges Gesicht gemacht haben – überkam es ihn plötzlich wie eine rührende Milde und Weichheit. „Junior,“ sagte er, indem er mir mit der hagern Hand zärtlich durch die Locken strich, „wenn der alte Grüneisen dermaleinstens wird gegangen sein in jene terra incognita, wollte sagen: in jenes unbekannte Land, allwo die Engelein mit den weißen Flügeln, grüne Palmzweige in den Händen, an den Himmelspforten stehen, dann soll dieses Büchlein Ihm gehören, mein Junior. ‚Vanitas vanitatis‘ stehet auf der letzten Seite zu lesen – und das ist wirklich dieses Lebens Inhalt: der Thoren Thorheit.“ Und dann streichelte er mir die Wangen und küßte mir die Stirn, und mir war’s, als sähe ich eine Thräne glänzen in dem Auge des Alten.

„Und nun komm’ Er und laß’ Er uns dahin hinaufsteigen, allwo die heilige Dreifaltigkeit thronet!“ und damit ergriff er meine Hand und führte mich auf das dunkle Treppenvorgemach hinaus und eine schmale Stiege hinan. Als wir Drei, Grüneisen, ich und der Kater Karfunkulus, letzterer knurrend und schnurrend in unheimlichen Sätzen uns voran, die finstern Stufen hinaufstiegen, da ging mir in leisen Schauern zum ersten Male das Kindesherz auf, als ahne es dunkel des Lebens ganzen Ernst und seinen oft so räthselhaften Inhalt. Zwischen dem seltsamen Alten und seinem gespenstischen vierfüßigen Begleiter mit den unstäten Gluthaugen stand ich warmes, frisches Knabenblut auf der geheimnißvollen dunklen Stiege. Wohin, wohin? Zur „heiligen Dreifaltigkeit“, hatte Grüneisen gesagt. Was sollte ich mir dabei denken? All’ meine Pulse klopften.

Es war ein geräumiger, düsterer Hausboden, den wir nun beschritten. Wir hatten kaum den Fuß auf die halb verwitterten, schwankenden Bretter gesetzt, als eine ganze Völkerwanderung langbeschwänzter Ratten und schnellfüßiger Mäuse nach allen Seiten hin vor uns auseinanderstob. Karfunkulus machte zischend und prustend einen gewaltigen Sprung und begann über Balken und Gerümpel hinweg eine fliegende Jagd auf das aufgeschreckte Ungeziefer. Christian Leberecht aber führte mich in langen Schritten – ich trippelte ängstlich neben ihm her – durch die dunklen Räume auf drei ferne helle Punkte am Ende des Hausbodens zu. Es waren drei kleine im Dreieck angebrachte runde Fenster, „Vater“, „Sohn“ und „heiliger Geist“, wie mein Begleiter in seiner Alles versinnbildlichenden Weise interpretirte. „Etwas muß der Mensch haben, daran er sein Herz kann hängen,“ fügte er hinzu, „und hier ist meine Vergangenheits-Gedankenbrütstätte.“

Wir waren an eines der Fenster getreten – ich glaube, es war der „heilige Geist“ – und schauten hinaus in die morgenfrische Herbstlandschaft. Ueber die Dächer der Häuser hinweg blickten wir auf die sonnenbeglänzten Felder und Wiesen, welche mir in diesem Augenblicke schöner denn je erschienen. Auf dem blauen Flusse ganz im Vordergrunde der Landschaft schwammen bunt bewimpelte Kähne mit fröhlichen Menschen, die in den hellen, farbenschimmernden Sonntag lustig hineinruderten. Ueber ihnen segelte schwirrend ein Heer von Vögeln durch die klare, reine Luft, vom Hintergrunde her aber, dort, wo im Duft der Ferne saftige Wälder das Landschaftsbild abschlossen, grüßte der Thurm einer Dorfkirche freundlich zu uns herüber. Glockengeläute klang von allen Seiten an unser Ohr, und in dem durch die Stille wallenden Tongewoge mochte wohl auch von dem fernen Kirchlein ein verlorener Klang zu uns dahertönen.

Grüneisen lehnte das Haupt gedankenvoll an die Fensterbrüstung, und „O Junior,“ sagte er wehmüthig und weich, indem er leise auf den Kirchthurm am Walde deutete, „dort hinüber lag mein Glück. Und nun gehe Er und grüße Er mir die Demoiselle Seniorin!“

Indem ich mich auf seine freundlich verabschiedende Handbewegung schüchtern zum Gehen wandte und den Rückweg über den finsteren Hausboden antrat, hörte ich noch, wie Grüneisen, leise seufzend, vor sich hin flüsterte: „Vanitas vanitatis!“, und aus den Winkeln und Nischen des unwirthlichen Bodenraumes schien das Echo zu antworten: „Der Thoren Thorheit!“

Dicht an der Treppe leuchteten mir im Vorübergehen aus einem dunklen Mauerloche die feurigen Augen des Katers Karfunkulus entgegen – es befiel mich ein Gefühl von Furcht und Grauen; ich beflügelte meine Schritte, und des hellen Sonnenscheines gedenkend, der jetzt wohl recht lustig da draußen auf den Trottoiren liegen müsse, wo wir Knaben so gern spielten, floh ich, Stiegen und Stufen hinunter, aus dem unheimlichen Hause des alten Grüneisen.

Ja, draußen strahlte die goldene Sonne. Auf dem hohen, eisenumgitterten Vorbau, der in jener alten Zeit an der ganzen Länge meines Vaterhauses estradenartig hinlief, saßen die Eltern und Geschwister nach traulicher Kleinstädtersitte um den sonntäglichen Tisch. Der Kaffee dampfte heute aus unsern Festtagstassen, und das Gespräch drehte sich um einen wichtigen Gegenstand, um Schwester Elisens Geburtstagskuchen, der soeben in den würzigen Mokka getaucht wurde.

Was waren mir Mokka und Geburtstagskuchen! Ich wälzte in meinem Kinderkopfe eine Welt von Gedanken und Fragen: der Alte da oben in seiner epheuumrankten Mansarde, das verschleierte Bild, das geheimnißvolle Buch, die heiligen Dreifaltigkeitsfenster, durch welche die kleine Kirche am Walde so bedeutungsvoll hereinwinkte, und dazwischen die geisterhaften Augen des Katers Karfunkulus – wie erregten und bewegten mich diese Eindrücke, die ich vom Nachbar mit heimgebracht hatte! Hier unten aber auf der Estrade vor meinem Elternhause die strahlenden Gesichter der Meinen, Elisens neues Geburtstagskleid, das lustige Sonntagstreiben auf der Straße und über alledem, wie ein rosiger Schleier, aus Frieden und Feierlichkeit gewoben, der sonnige, wolkenlose Herbsthimmel und das leise verhallende „Nun danket Alle Gott!“ der singenden Gemeinde in der nahen Kirche – das alles weckte mir der Empfindungen zu viel, zu viel auf einmal für mein übervolles Knabengemüth. Der Vater sah mich erstaunt an, denn ich hatte soeben eine seltsame Frage gethan; mit einer Handbewegung zum Nachbar Grüneisen hinüber und einem langen verwunderten Blick auf die ganze Umgebung hatte ich gefragt: „Vater, ist das das Leben?“ – –

Monate gingen in’s Land. Candidat Grüneisen dienerte nach wie vor täglich zu uns herüber. Dann aber brach ein Tag herein – und Alles wurde anders. Und das kam so:

Als ich eines Abends in der Dämmerstunde aus der Schule heimkam, saß ein junger Mann bei uns am Theetische. Fremd war er mir nicht, denn ich hatte ihn schon öfter bei uns aus- und eingehen sehen, aber heute hatte er so traulich an unserem Familientische Platz genommen, als gehöre er zu uns. Wenn Schwester Elise ihm eine Tasse Thee präsentirte, dann erröthete sie immer tief und schlug die Augen nieder, er aber – was war das? – küßte ihr heimlich die Fingerspitzen, als sie ihm auf seinen Wunsch den Thee nicht, wie üblich, vom Brette, sondern mit der Hand reichte.

Ich zog die Mutter in’s Nebenzimmer und bestürmte sie mit Fragen über den ungewohnten Gast.

„Ja,“ sagte sie lächelnd, „das ist ein neuer Onkel, nein, nicht ein neuer Onkel; das ist so ein – Schwager, Dein Schwager, mein Junge.“

Wunderbar, mein Schwager! Nun war’s heraus. Schwester Elise war Braut.

Den nächsten Tag wußte es die halbe Stadt, und übermorgen stand es in der Zeitung zu lesen. Grüneisen, hast Du es auch gelesen? Ich glaube wohl. Und sonderbar – noch an demselben Tage verschwanden die Sterne und Blumen an den Giebelfenstern uns gegenüber, und ein langes, schwarzes Tuch, statt eines Rouleaus in breiten Falten herunterwallend, trat fortan an die Stelle des abenteuerlichen Fensterschmuckes, tiefe, farblose Trauer an den Platz des bunten, freudigen Lebens.

Den ganzen Winter über sah man den Alten nicht. Er schien sich förmlich einzuspinnen in seine trübe Einsiedelei. Als aber der Frühling kam, da trieb die Gewohnheit ihn doch wieder einmal heraus, aber nicht auf die Straße, nein, zuvörderst auf’s Dach, denn er mußte ja seiner „lieben Frau“ – so nannte er sein Haus stets – ein neues Kleid anziehen, wie immer im Monat Mai, und die Procedur des Ausbesserns der alten Baracke nahm herkömmlicher Weise am Dache ihren Anfang. Für zarte Nerven war es ein schwindelerregender Anblick, Herrn Christian Leberecht’s hagere, gebrechliche Gestalt auf dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 867. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_867.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)
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