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Seite:Die Gartenlaube (1876) 870.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


mein Schwesterlein, auch eine Elise und durch ein wundersames Naturspiel das Ebenbild jener ersten. Daß sie ihm die wiedergeborene Jugendgeliebte sei, diese Fiction war die beglückende Idee seines Alters, aber seines Herzens Heimath war und blieb die Vergangenheit. Von den drei kleinen Bodenfenstern aus suchten seine Augen immer und immer wieder das Heimathdörfchen da hinten am waldumsäumten Horizont, wo er so unsäglich glücklich gewesen und ach! so unendlich elend geworden. „Zwei kurze Frühlingstage nur – und des Lebens Rest ist Schatten, nichts als Schatten; denn das Beste und Edelste stirbt früh,“ stand auf der letzten Seite seines Tagebuches.

„Zwei kurze Frühlingstage nur –“ diese Worte fielen mir wenige Jahre nach des Alten Tode schwer auf’s Herz – es war an der Bahre unserer theuren Schwester Elise. Zwei zarte Kinder schlummerten ihr in der Wiege – und sie mußte so jung davon. Was ist Menschenglück, was ist Erdenhoffnung? „Vanitas vanitatis!“ schloß Christian Leberecht Grüneisen sein Tagebuch: „Der Thoren Thorheit!“



Die Singtyrannen der Gegenwart.


„Wo man singt, da laß dich ruhig nieder!“ – heißt der Anfang eines ebenso alten wie schönen, aber auf die Gegenwart nur mit größter Vorsicht anzuwendenden Sprüchworts. Wie kann man sich da ruhig niederlassen, wo Jemand mit kolossalem Aufwande von Athem, mit aus den Höhlen quellenden Augen und anschwellenden Adern Attentate auf das Trommelfell seiner Zuhörer verübt, welche der gemeine Menschenverstand mit „Singen“ zu bezeichnen pflegt?! Nun giebt es zwar unleugbar Stimmen, welche schon von der Natur mit einem reichen Tonumfang ausgerüstet sind und einer soeben beschriebenen besonderen Erregung der Tonerzeugungsorgane zur geeigneten Wirkung nicht bedürfen. Aber sie bilden heutzutage die bedeutende Minderheit unter den sogenannten starken Stimmen, da geistreiche Gesanglehrer Mittel gefunden haben, jede Stimme, wenn solche auch von Natur klein, durch gewaltsames Hinaufschrauben der einzelnen Register über deren natürliche Grenzen zu einer sogenannten „starken“ heranzubilden; denn „stark“ muß die Stimme sein; das ist im Gebiete des Gesanges die Losung unserer Zeit.

Die menschliche Gesellschaft bemühte sich von jeher, allem Gemeinschädlichen nachzuforschen und, wenn möglich, Abhülfe eintreten zu lassen. Vereine geselliger oder fachmännischer Natur schossen stets wie Pilze aus der Erde. Zur Abwechselung gedachte man auch des lieben Viehes, und damit dasselbe nicht ganz auf den Hund komme, gründete man Schutzvereine gegen Thierquälerei. Oeffentliche Blätter gingen mit diesen letzteren Bestrebungen Hand in Hand. Wer von den Lesern dieses Blattes würde sich beispielsweise nicht mit rührender Wehmuth der bildlich dargestellten zusammengekoppelten Ochsen beim Transport auf der Eisenbahn entsinnen?! Auch Sanitätspflege hat besonders in der „Gartenlaube“ von hervorragend kundiger Seite reiche Beachtung gefunden. Ebenso aber, wie bis jetzt noch nicht ein Verein gegen Vergewaltigung menschlicher Organe (vulgo Menschenquälerei) sich bemerkbar machte, so hat, meines Wissens, auch noch kein öffentliches Blatt sich der so oft auf grausame Weise mißhandelten Singorgane des Menschen angenommen. Das große Publicum kümmert sich nicht darum, auf welche oft fast unmenschliche Art ihm die vielbegehrte starke Stimme zurecht gestutzt wird – es applaudirt bei jedem möglichst herausgeschrieenen Tone aus Leibeskräften und spricht überhaupt gelegentlich nicht von einem schönen Gesange, wie das sonst üblich war und wie solches dem innersten Wesen der Kunst entspräche, sondern nur von der starken Stimme dieses und jenes Sängers. (Eigentlich sollte man demnach in solchem Falle überhaupt gar nicht mehr das Wort „Gesang“ in Mitleidenschaft ziehen, sondern die Sänger einfach in Lungeninhaber mit stärkerer oder schwächerer Explosionsfähigkeit eintheilen.)

Die Kunstkritik eifert im Ganzen wenig gegen das überhandnehmende Loslegen gewisser Sänger, besonders im Theater, ja sie verlangt sogar in nicht seltenen Fällen zur Ausführung des colorirten (das heißt verzierten) Gesanges einen ebenso vollen Gesangston, wie solcher nur für den getragenen Gesang sich eignet: als ob sich eine Kegelkugel mit derselben Leichtigkeit, wie ein Federball dirigiren ließe.

Die Capellmeister der meisten Theater lassen die Sache gehen, wie sie eben geht; brauchen sie doch für die Ausführung vieler Opern Stimmen, die ihren Platz überhaupt nur musikalisch auszufüllen haben und denen so viel Kraft innewohnt, um durch die in der Regel massige Instrumentation durchzudringen. Die eigentliche Pflege des Kunstgesanges hat sich sonach im Allgemeinen in den Concertsaal geflüchtet und existirt dort in aristokratischer Abgeschlossenheit. Eine Jenny Lind, Henriette Sontag, Marie von Marra, ein Roger, Stockhausen und viele Andere entzückten die Welt, trotz nicht hervorragend starker Stimme, theils durch den sinnlich bestrickenden Zauber ihres schönen Gesangstones, theils durch die unnachahmliche Grazie ihres seelisch bewegten Vortrags.

Betrafen nun diese Betrachtungen mehr die ästhetische Seite des Vorhandenseins starker und künstlich stark gemachter Stimmen, so mag das Folgende die hieraus entstandenen Auswüchse und das sich wiederum aus dem Vorhandensein der letzteren ergebende Gemeingefährliche für denjenigen Theil der menschlichen Gesellschaft, welcher sich überhaupt mit der Gesangskunst beschäftigt, darstellen. Zunächst tragen die mit natürlich starken Stimmen begabten und in der Oeffentlichkeit wirkenden Sänger die unbewußte Schuld an dem in Mode gekommenen unnatürlichen Hange, um jeden Preis eine starke Stimme zu erzielen; man will ihnen eben, so viel wie irgend möglich, nachahmen.

Eine große Anzahl von Leuten, welche nicht einmal annähernd einen Begriff von der Behandlung der zarten Stimmorgane des Menschen hat, ist der Meinung, daß, wer ein wenig Clavier klimpert, die Geige zum Tanze streicht oder zur Noth einen Choral auf der Orgel spielen kann, dadurch befähigt genug sei, Gesangunterricht zu ertheilen. Diese Sorte von Singtyrannen giebt nun niemals Pardon, wenn sie eine menschliche Stimme in ihre Gewalt bekommt. Ein junges frisches Mädchen, deren Stimme nach Eintritt der Pubertät, gleich einem jungen Kinde, erst, so zu sagen, das Licht der Welt erblickte, muß alle Uebungen, welche der Singtyrann für nothwendig hält, vor allen Dingen mit starkem Tone ausführen, damit die Stimme, einer beliebten Redensart dieser Species zufolge, „herauskommt“.

Daß eine junge Stimme, gleich einem jungen Kinde, mit höchster Zartheit zu behandeln ist, wird von dem Singtyrannen gänzlich außer Acht gelassen. Rücksichten auf die einzelnen Stimmregister (das sind hörbare Einschnitte in der Stimme, die etwa mit den sichtbaren Gelenken der Finger zu vergleichen wären), welche, je nach ihrer Lage, mit mehr oder weniger Athem, oder mit einer dem Tone je nachdem zu gebenden verschiedenen Richtung zu behandeln wären, kennt der Singtyrann nicht. Wozu auch? er wünscht ja nur, daß der Ton so klinge, wie er ihn auf dem Instrumente angiebt, und seine Unersättlichkeit erstreckt sich höchstens auf die Stärke desselben, welche ihm nie genügt. Zu welchen Mitteln der Schüler greift, um diese seine Begierde zu stillen, ist dem Singtyrannen ganz gleich.

Das junge Mädchen klagt über Drücken im Halse, über Brustschmerz, wenn es ein Weilchen gesungen hat; das Zäpfchen erscheint nachgerade purpurrot in Folge der übernatürlichen Anstrengungen – Alles vergebens: „Sie müssen sich gewöhnen, meine Liebe,“ so beschwichtigt der Singtyrann das junge Mädchen. Das junge Mädchen gehorcht; es singt (vulgo schreit) mit angespanntester Anstrengung der Lungen nach dem Befehle des Singtyrannen, denn die Eltern finden ja auch, daß die Stimme schon hübsch stark klingt, und – der Herr Cantor ist doch ein großer Musikus, der Sonntags in der Kirche so schön die Orgel spielt; er muß das also verstehen.

Es treten aber bereits Symptome bei dem jungen Mädchen ein, welche die Befragung des Arztes nöthig machen. Der Arzt setzt den Kehlkopfspiegel an. Er findet die Stimmbänder in Folge der heftigen Singarbeit maßlos überangestrengt und ausgeweitet,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 870. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_870.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)
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