Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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besten Werth dadurch erhält, daß eine gute Strecke schöner Felder und Wiesen und ein Wald dazu gehören, den ich Dir nicht beschreiben will, den Du selbst sehen sollst. – Nun aber befriedige auch meine Neugier, und laß’ hören, was Du treibst und wie es kommt, daß ich Dich hier im süßen Nichtsthun treffe, den ich als vielbegehrten Arzt in der großen Stadt wähnte?“
„Eins schließt das Andere nicht aus,“ entgegnete Jener gutgelaunt. „Wenn ich in der Stadt vielbegehrt bin, so bin ich es auch hier, da die Liste der hiesigen Badegäste zum größten Theile Namen aus der dortigen Einwohnerschaft ausweist. Ich muß daher im Sommer mehr unterwegs sein, als es mir wünschenswerth ist. Und in diesem Sommer wird dies voraussichtlich noch mehr der Fall sein, als sonst. Ich habe einen kleinen Patienten hier, der meine fortwährende Aufmerksamkeit und Sorgfalt in Anspruch nimmt, der so recht eigentlich durch die Mühe, die er mir gemacht hat, mein Eigenthum geworden ist, und auf welchen ich Rechte zu besitzen meine, die ich durch manche an seinem Bette durchwachte Nacht errungen habe. Nun, dieser kleine Bursche hat mich auch heute hergeführt, und wenn Du mich begleiten willst – es ist nur eine kleine Strecke Wegs, die Villenstraße hinab, – dann sollst Du seine Bekanntschaft machen und dabei eine alte erneuern.“
„Eine alte Bekanntschaft? – Du machst mich neugierig – wer ist es?“
„Nichts da!“ entgegnete der Andere, „ich gebe keinen weiteren Aufschluß. Komm’ mit und Du wirst mit eigenen Augen sehen und erkennen.“
„Wenn Du Dir zutraust, mich als willkommenen Gast dort einzuführen,“ sagte der Große, „so bin ich bereit. Aber bedenke, ich habe von jeher scharfe Augen gehabt – hast Du sie nicht zu fürchten? Die Sache mit dem kleinen Patienten scheint mir bedenklich – ist da nicht etwa eine hübsche Schwester, oder gar eine Mutter im Spiele, die Dich mehr in Athem hält, als der kleine Kranke?“
„Herr des Himmels, ist der Mann scharfsichtig!“ erwiderte lachend der Andere. „Beides ist vorhanden, sowohl eine Mutter, wie auch eine Schwester. Nun aber sage ich auch nichts weiter – komm’ mit und thu’ die Augen auf, dann wirst Du sehen.“
Die Herren wandten sich zum Gehen, und nachdem der Größere seinem Reitknechte gewinkt hatte, ihm mit den Pferden zu folgen, schritten sie eine Strecke die Hauptstraße entlang und bogen dann in den Weg zu den Villen ein. Sie gingen langsam zwischen den zierlichen, niedrigen Zäunen hin, welche die Straße von den sorgfältig gehaltenen Vorgärten trennten. In allen erblickten sie geschäftige Arbeiter, die bemüht waren, die Verwüstungen des Sturmes zu verwischen. Zwischen den Laubgruppen schimmerten helle Sommerkleider, und in den offenen Hallen saßen die Bewohner plaudernd um den gedeckten Theetisch.
Der Doctor grüßte rechts und links auf eine Weise, die seinen Begleiter erkennen ließ, daß er wohlbekannt und wohlgelitten in den Häusern sei. Auch glaubte er zu bemerken, daß es vorzugsweise die Augen der Frauen waren, die ihm mit Interesse folgten.
Diese Wahrnehmung erregte sein Lächeln. Es wurde ihm dadurch wieder lebhaft jene entschwundene Zeit in’s Gedächtniß zurückgerufen, da sie Beide lustige Jenenser Studenten waren und sein Freund jede Woche ein anderes Liebesabenteuer hatte. Sie waren damals eine Zeitlang Stubennachbarn gewesen, und er erinnerte sich daran, wie fast kein Tag entschwunden war, ohne ein duftiges, kleines Billet oder sonst eine zierliche Sendung für Jenen zu bringen. Mit einiger Verwunderung fragte er sich, wie es hatte geschehen können, daß dieser oft beneidete Liebling der Frauen bis jetzt unvermählt geblieben war, wie er selbst, der doch in früherer Zeit stets eine sehr bescheidene Rolle in der Gesellschaft gespielt hatte. Während er noch darüber nachdachte, öffnete Jener die Thür des letzten der Gärten, und beide Männer betraten den Kiesweg, welcher einen sauber gehaltenen, weiten Rasenplatz begrenzte. Auf demselben stand eine hohe Frauengestalt leicht niedergebeugt zu einem Arbeiter, der sich knieend mit einem beschädigten Rosenbäumchen beschäftigte. Die Dame stand von den Kommenden abgewandt, sodaß diese ihr Gesicht nicht sehen konnten. Aber die schlanke Gestalt, die anmuthige Haltung, die graziöse Art, wie die weiche, dunkle Seide ihres Gewandes in reichen, ungebrochenen Falten herniederfloß, machten sie auch in dieser Stellung zu einem angenehmen Ruhepunkte für die Blicke der Nahenden. Als deren Schritte dem Ohre der Dame hörbar wurden, richtete sie sich in die Höhe und wandte sich langsam um.
„Guten Abend, Frau Helene!“ sagte der Arzt, während er ihr mit dem Vorrechte des alten Bekannten die Hand hinreichte. „Verzeihen Sie, daß wir Sie stören in der Ausübung Ihres milden Amtes, Wunden zu heilen! Ich bin vor kaum einer Stunde angekommen und wollte mich vor Nacht noch von dem Befinden unseres Felix überzeugen – und da habe ich Ihnen einen alten Freund und neuen Nachbar mitgebracht, der mir unterwegs ganz unvermuthet in den Wurf gekommen ist. Schauen Sie ihn an, Frau Helene, und sagen Sie mir, ob Sie sich dieses kleinen, zarten Menschenkindes noch von früherher erinnern!“
Die schöne Frau hob langsam das Auge und schaute mit einem ernsten, prüfenden Blicke zu dem Fremden empor. Dieser regte sich nicht, nur das schnellere Heben und Senken der Brust bezeugte, daß er lebe und athme. Seine Augen waren auf das glänzende, dunkle Haar der Dame gerichtet, dessen reichen Flechten ein paar widerspenstige Löckchen entwischt waren. Und diese auf dem schlanken Halse sich kräuselnden Löckchen waren es, die ihm plötzlich die Leiden verflossener Jahre mit peinvoller Deutlichkeit in’s Gedächtniß zurückriefen. Unter den auf ihn einstürmenden Erinnerungen wurde die Pause des Stillschweigens, welche den Worten des Doctors folgte, ungebührlich lang. Das zartgeschnittene bleiche Gesicht der jungen Frau wurde von einem feinen Roth übergossen, und der Blick ihrer großen dunkelgrauen Augen begann unsicher zu werden. Endlich hatte sich der Fremde gefaßt und sagte mit einer wohlklingenden, tiefen Stimme: „Wollen Sie es meiner Ueberraschung zu gute halten, gnädige Frau, wenn ich heute wieder in den Fehler meiner Jugend zurückfalle und da schweige, wo Reden geboten wäre? Der Doctor hier hat mir allerdings das Wiedersehen einer Freundin aus frühern Tagen verheißen, daß ich aber Sie, gerade Sie, hier treffen würde, das habe ich so wenig vermuthet, daß die Ueberraschung mir im ersten Augenblicke die Fähigkeit raubte, Ihnen meine Freude darüber auszudrücken.“
Die junge Frau reichte ihm lächelnd die Hand.
„Ihre Stimme,“ sagte sie, „giebt mir erst Gewißheit darüber, wen ich vor mir habe. Meine kurzsichtigen Augen haben mich darüber in Zweifel gelassen. Daher ist meine Begrüßung auch weniger herzlich ausgefallen, als es bei einem lieben Freunde aus der Jugendzeit der Fall sein sollte. Lassen Sie mich das Versäumte nachholen und Ihnen sagen, daß ich Sie von Herzen willkommen heiße! Und Sie sind unser Nachbar geworden – ich denke, lieber Doctor, so sagten Sie doch? – und weilen hier am Orte, um gleich uns Seebäder zu nehmen?“
„Behüte, Frau Helene!“ entgegnete der Doctor, „wir haben in unserem Freunde den neuen Besitzer von Schloß Hirschberg zu begrüßen, denselben, für welchen die schönere Hälfte der Badegesellschaft bereits schwärmt, ohne ihn zu kennen. Ja, ja, Du Glücklicher,“ wandte er sich lachend an seinen Freund, „man hat Großes mit Dir im Sinne. Man hat Absichten auf Dich und Alles, was Dein ist. Dein Park liegt uns gerade bequem zu unsern Pikniks und Waldfesten. Deine Wagen und Pferde brauchen wir zu unsern Ausflügen in die Umgegend, und Dich selbst pressen wir zum Vorstande des Vergnügungscomités. So ist’s beschlossen in öffentlicher Sitzung, was natürlich nicht kleine private Pläne ausschließt, die Dich dem Gelübde der Ehelosigkeit untreu machen sollen, das Du, wie man sich erzählt, als würdiger Nachfolger der Ordensbrüder abgelegt haben sollst. Ich habe jetzt meine Freundespflicht an Dir erfüllt und Dich gewarnt. Und nun, Frau Helene, lassen Sie mich meinen Kleinen sehen! Wie steht’s sonst bei Ihnen – Alles wohl?“
Er hatte während der letzten Worte die Hand der jungen Frau ergriffen, sie durch seinen Arm gezogen und sich dem Hause zugewandt, Alles mit der Miene eines Mannes, der ein unbestreitbares Recht in Anspruch nimmt. Sie hatte es geschehen lassen, es aber so einzurichten gewußt, daß der Fremde an ihrer andern Seite dem Hause zuschritt.
„Der Doctor hat ein scharfes Ohr,“ sagte sie lächelnd, „er hört das Klappern der Theetassen von der Veranda her und weiß, daß es unsere Pflicht ist, diesem Zeichen pünktlich zu gehorchen. – Also als Landwirth finde ich Sie wieder, und eben
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_058.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)