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Seite:Die Gartenlaube (1877) 767.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


hervor. Ueberall ist Schönheit und Wohllaut. Die Pariser Künstler haben ohne Ausnahme diesen Gemälden volle Anerkennung und in mancher Beziehung die größte Bewunderung gezollt. Diese Landschaften sind eben so bedeutend, daß man den Maßstab, welchen man sonst bei Arbeiten sehr begabter Kinder anlegt, hier gar nicht gebrauchen kann. Man steht vor den durchaus künstlerischen Gemälden eines zwanzigjährigen Genies.

Das Urtheil der Pariser Presse läßt sich in dem Satze zusammenfassen: „Fritz van der Kerkhove’s Landschaften sind natürlich keine Meisterwerke, aber sehr bedeutende Gemälde, welche durch ihre Eigenartigkeit, die Poesie, die staunenswerthe Tiefe und Macht ihres Ausdrucks jedem Landschaftsmaler, selbst den größten Meistern, zum Vorbilde dienen können.“

Fritz van der Kerkhove war ein schwächlicher Knabe. Er kränkelte von der Geburt bis zum Tode. Er litt beständig an Kopfschmerz und schlief, mit Ausnahme der Nacht vor seinem Tode, nicht ein einziges Mal einen guten, ununterbrochenen Schlaf. Er aß auffallend viel; sein Durst war krankhaft. So viel der Knabe auch trank, er konnte niemals seinen Durst löschen. Der kleine Märtyrer starb an einem Blutergusse in’s Gehirn. Im fünften Jahre fing er an Bilderbogen zu malen und bald konnte man nicht genug Bilder für ihn aufbringen. Etwas später ließ ihm der Vater Unterricht im Zeichnen geben. Als Fritz über die Striche und die primitivsten Formen hinaus war, duldete seine mächtige Individualität kein gehorsames Copiren mehr; aus den Grundzügen der Vorlage schuf seine Phantasie Eigenes. Wenn der Vater ihm aufgab, einen der Kupferstiche, mit welchen die Wände seines Ateliers bis zum Boden bedeckt waren, zu copiren, so fing der arme Fritz gewissenhaft an nachzuzeichnen, allein schon nach zehn Minuten konnte der Vater nur noch mit Mühe und Noth in der Zeichnung seines Söhnchens einige Punkte des Kupferstichs erkennen. Was er sah, war eine ganz andere.Landschaft, eine von Fritz componirte. Des Knaben Kränklichkeit machte ein strenges Verfahren gegen ihn unmöglich. Mußte er doch oft wochenlang wegen seines Kopfleidens die Schule versäumen.

Von seinem siebenten Jahre an zeichnete er nicht mehr; er malte nur und zwar auf seine eigene Weise. Er zeichnete seine Landschaften nicht, ehe er sie malte. Die Motive dazu nahm er aus den Spaziergängen und aus seiner Phantasie. Für die wenigen Gebäude, die er malte, fand er Vorlagen in den Kupferstichen, niemals aber copirte er; er sah nur vielmehr die wichtigen Verhältnisse davon ab. Die fabelhafte Schnelligkeit, mit welcher Fritz malte, ergiebt sich aus der Zahl der Bilder, welche er in vier Jahren schuf: sechshundert. Sein Vater sagt, Fritz habe einmal an einem Tage siebenzehn Bilder entworfen. Selten malte er eins fertig, ohne inzwischen mehrere andere zu entwerfen. Wiederholt nahm er sie vor und arbeitete sie nach und nach aus. Herr van der Kerkhove sagt, er sei überzeugt, daß, wenn Fritz durch Kränklichkeit, durch beständiges Leiden nicht so oft am Malen wäre verhindert worden, er statt sechshundert Bilder zweitausend würde gemalt haben. Auf den Spaziergängen hatte er Auge und Empfindung für Alles. Er sah Farben und Farbenabtönungen, welche sein Vater absolut nicht sah, und sprach darüber mit einem Verständnisse, wie man es nur bei feinen und erfahrenen Künstlern findet. Wenn der Vater Kerkhove etwas an Fritzens Bildern corrigiren wollte, dann fing der Knabe bitterlich zu weinen an, lief zu seiner Mutter und klagte ihr, der Vater wolle seine Landschaft „verderben“. Es ist natürlich, daß der geniale Fritz das Eingreifen der platten Routine in seinen eigenartigen Schöpfungen nicht ertrug. Jeder Pinselstrich seines Vaters auf dem Bilde war für ihn ein Dolchstich in’s Herz. Was der Vater glattlecken oder zudecken wollte, das war ja eine unbegriffene Schönheit, ein unverstandenes Gefühl, ein Gedanke, eine Ueberzeugung. Er sah und empfand eben anders als der Vater. „Laß sie doch! Es sind ja meine Bäume,“ sagte er mit Thränen.

Der arme Fritz litt so viel, so beständig und in jeder Weise. Es stand in seinem Antlitz geschrieben, wie sehr er litt. Sein blasses Gesicht hatte die Züge eines Kindes und den Ausdruck eines Mannes, eines tiefsinnigen Mannes. In dem übermäßig großen dunklen Auge lag ein Gedankenernst, der Manchem unheimlich war, und sein Mund war immer schmerzlich, auch wenn er lächelte. Fritz war groß, aber schmal gebaut; nur der Ansatz des Halses, die Hand- und Fußgelenke waren kräftig. Sein Kopf war unförmlich groß, und er trug ihn wie eine schwere Last.

Für grammatikalisches Lernen zeigte er weder Lust noch Leichtigkeit, dagegen liebte er Geschichte und Geographie. Ueber Alles aber liebte er die hohen und tiefen Dinge, das Unbekannte. Er stellte immer Fragen darüber und weinte, wenn man ihm keine befriedigende Antwort gab. Ja, diese Dinge quälten ihn; die Abgründe zogen ihn an. War er doch selbst ein Abgrund.

„Wer ist denn Gott?“ frug er immer wieder. Er hatte eine Vorliebe für den Friedhof, und wenn er einen Leichenwagen sah, so lief er ihm nach. Als seine Mutter ihn einmal fragte, warum er dies thue, antwortete er, er hoffe immer, eine Seele aus dem Wagen fliegen zu sehen.

Armer Fritz! Er hatte wohl eine Ahnung, daß er nicht lange leben werde. Wenn man ihn ein und das andere Mal mehr als gewöhnlich liebkoste, dann wurde er traurig und fragte: „Muß ich denn bald sterben?“

Sein Gemüth war sanft und weich; er hatte ein Bedürfniß, einen Durst nach Liebe. Immer hielt er die Hände seiner Mutter oder seines Vaters und schmiegte sich an ihren Körper. Jedem Bekannten, der kam oder ging, reichte er die Hand. Seine Spielkameraden beteten ihn förmlich an. Ich darf nicht vergessen, daß Fritz auch für die Musik ungewöhnlich begabt war. Er sang eigenartige, improvisirte Melodien, suchte auf dem Claviere wohltönende Accorde dazu und fand sie, obgleich er keinen Unterricht im Clavierspiele hatte.

Niemals aber sang er vor Andern, selbst nicht vor seinen Eltern. Oft standen diese vor der Thür und lauschten seinem leisen, wunderbaren Gesange. Trat man dann ein, so verließ er mit einer heiligen Schamröthe auf den erschrockenen Zügen das Zimmer.

Aber der Wunderknabe hatte außer der Malerei und der Musik noch eine Leidenschaft: die Armen. Mit ihnen theilte er sein Brod; mit ihnen litt er. Er wählte vorzugsweise arme Kinder zu Spielcameraden und ging häufig mit ihnen nach Hause. Sah er, daß sie kein Spielzeug hatten, so lief er, holte seines und brachte es ihnen. Wenn er zum Spielen auf die Straße ging, so ließ er sich ungeheure Brodschnitten geben und füllte seine Taschen mit frischem oder getrocknetem Obste für die armen Kinder. Läuteten Arme am Hause und er sah sie vom Fenster aus, so lief er in die Küche und plünderte Teller und Schüsseln in und auf dem Schranke, oder er ging in die Vorrathskammer und schleppte, so viel seine Arme zu tragen vermochten, zur Hausthür, wo „seine Freunde“, Kinder, Frauen und Greise, ihm die liebevollen Hände küßten.

An einem kalten Wintertage, als Arme um Essen baten, und Frau van der Kerkhove, welche sehr wohlthätig ist, sagte, es thue ihr leid, sie könne heute nichts mehr geben, da schlich Fritz, nachdem er die Vorrathskammer geschlossen gefunden, in den Keller, nahm Brode, geräuchertes Fleisch und Kartoffeln und brachte es, keuchend unter der Last, auf die Straße, wo er den heimwärts gehenden Bettelnden nachlief. Gute, barmherzige Seele! Später, als er, am Fenster stehend, Sperlinge vor dem Hause picken sah, fragte er seine Mutter: „Wer sorgt für die Vögel?“

„Gott,“ erwiderte sie. Er blickte eine Weile stumm den Vögeln zu und sagte dann: „Warum sorgt Gott nicht auch für die Armen?“ O, diese wußten, was sie an Fritz verloren. Als er todt war, brachten sie ihm Blumen und weinten an seinem Sarge. Und noch jetzt sieht man häufig Arme einen Blumenstrauß auf sein Grab niederlegen.

Soll man Fritz van der Kerkhove beklagen, daß er der Kunst und dem Leben entrissen wurde, noch ehe er in ihre Reife getreten?

Nein, ihn nicht. Belgien ist zu beklagen, das Land, welchem die Entfaltung und der Ruhm dieses wunderbaren Genies verloren ging. Dich, guter Fritz, armer Märtyrer, Dich beklage ich nicht. Was Du in späteren Jahren mit Deinem Herzen und Deinen Gedanken in dieser Welt würdest gelitten haben, das vermögen ein paar verwandte Seelen zu ermessen, und diese sagen feuchten Auges: „Wohl Dir, Fritz!“



Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 767. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_767.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)
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