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Seite:Die Gartenlaube (1878) 043.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

formen zu können. Wenn nun das Leben sich nicht fügen will, scheint es plötzlich allen Werth verloren zu haben. Das richtige Verhältnis findet sich mit der Zeit von selbst.“

Elise ließ sich gern überreden. Nach einigen glücklichen Stunden, in denen mehr von der Zukunft als von der Vergangenheit gesprochen wurde, ging sie hinaus, nach Irmgard zu sehen, und Werner begleitete sie. „Stellen wir uns nur gleich so vor,“ rieth er, „wie sie uns nun immer vor Augen haben soll: als ein Paar, das untrennbar zusammengehört. Jedes vorsichtige Ausweichen kann einzig und allein die Aussöhuung erschweren und zu neuen Kämpfen ermuthigen. Was überwunden werden muß, überwindet sich am leichtesten durch eine einzige kräftige Anstrengung, die durch die Umstände gefordert wird. Man muß sie schnell herbeiführen.“

Aber er täuschte sich. Kaum vernahm Irmgard, die aufgestanden war, seine Stimme im Vorzimmer, als sie wie ein gescheuchtes Reh floh und nach wenigen Schritten mit einem gellenden Aufschrei zu Boden stürzte. Ihre Stirn blutete. Durch Umschläge von kaltem Wasser aus der Ohnmacht erweckt, fiel sie in ein nervöses Zittern, das von den Händen ausging und sich bald dem ganzen Körper mittheilte. Sie hielt die Augen fest geschlossen. Werner suchte sie durch freundliche Vorstellungen zu beruhigen. „Fort – fort – fort!“ waren die einzigen Worte, die sie sprach und die sie immer wiederholte.

Elise zog ihn sanft hinaus. „Wir werden sie tödten,“ sagte sie dumpf.

Gegen Abend stellte sich ein heftiges Fieber ein mit Erscheinungen, die zu den schwersten Besorgnissen veranlassen mußten. Sie verlor minutenlang die Besinnung und phantasirte. Der Arzt wurde gerufen, er kam vor Nacht noch einmal und brachte einen Collegen mit. Sie schienen die Krankheit sehr ernst zu nehmen. Kein Zweifel: ein schweres Nervenfieber war im Anzuge.

Schon am nächsten Tage verhehlten die Aerzte nicht, daß Gefahr für das Leben sei. Sie steigerte sich von Stunde zu Stunde. Fortwährend sprach Irmgard mit ihrem Vater; sie gab ihm die zärtlichsten Namen und bewegte die Lippen, als ob sie ihn küßte. Ihre Mutter nannte sie nicht. Die letzten Ereignisse schienen ganz aus ihrem Gedächtnisse entschwunden, aber manchmal putzte sie sich, wie zu einem Fest, mit Bändern und Blumen – und dann war’s ein Todtenfest. „Sei nicht traurig!“ sagte sie oft, „sei nicht traurig! Ich wache bald wieder auf und bin dann immer bei Dir. Aber Du mußt mich nicht vergessen.“

Die Mutter sorgte mit übermenschlicher Anstrengung Tag und Nacht an ihrem Bette. Es war ihr ein furchtbarer Gedanke, daß ihr einziges Kind sterben könne, ein Opfer ihrer Liebe. Sündlich erschien ihr diese Liebe, wenn sie ein solches Opfer fordern könnte. Dieses junge aufknospende Leben für ein schon halbverwelktes Dasein! Wie war der Gedanke zu ertragen? Und wenn ihr Irmgard erhalten blieb – was dann?

Manchmal, wenn sie so in sich hineingrübelte, glaubte sie wahnsinnig werden zu müssen. Ihr Werk war’s ja, daß Irmgard empfand, wie sie empfand, daß sich ihr die häßliche Wahrheit verschlossen hatte und ein freundliches Trugbild den Schein der Wirklichkeit erhielt. Sie selbst hatte ja diese Täuschung, daß sie eine glückliche Frau gewesen, eingeleitet, genährt, zu einer Macht anwachsen lassen. Wie bitter war die Fracht zu kosten! Hieß das eine gerechte Vergeltung? Durfte sich so eine gute That strafen? Und doch! Sie hatte den Mann nicht geliebt, dem sie zum Bunde für’s Leben die Hand reichte. Nun rächte ihn sein Kind. –

Die Krankheit nahm nach der Krisis unerwartet einen günstigen Verlauf. Diese schwächlichen Constitutionen, meinten die Aerzte, ertragen eine solche Revolution im Nervensystem mitunter viel leichter, als die starknervigsten Menschen, aber um sich nicht früh zu verbrauchen, bedürfen sie der Beruhigung, der Schonung und Kräftigung. So ungefähr äußerten sich die Aerzte, ohne zu ahnen, welche Pflicht sie der Mutter auferlegten.

Das erste Wort, das Irmgard wieder bei voller Besinnung sprach, schnitt ihr tief in’s Herz. „Nicht wahr, liebe Mutter,“ sagte sie, mit schwacher Kraft, ihre Hand an die Lippen ziehend, „es war nur ein böser Traum?“

„Es war ein Traum,“ antwortete die arme Frau resignirt. Ihre Augen wurden feucht, aber sie drängte die Thränen zurück. Irmgard dufte sie nicht leiden sehen.

Und einige Tage später, als die Besserung rasche Fortschritte gemacht hatte: „Reisen wir bald von hier ab, Mutter?“

„Sobald Dein Zustand es erlauben wird.“

„O, ich werde mich recht beeilen, gesund zu werden, wenn ich weiß, daß ich damit unsere Abreise beschleunigen kann.“

„Warum strebst Du aber so eifrig fort?“

Sie senkte die Augen und lächelte. „Es ist eine recht kindische Furcht,“ antwortete sie, „aber ich kann sie nicht los werden. Ich fürchte immer, der Mann, der da oben in dem einsamen Hause wohnt, hat Macht über uns und kann von Neuem unsern Frieden stören. Wir müssen recht weit fort von ihm, damit wir ihm nie mehr begegnen.“

„Wenn Du ihn aber kennen wolltest, wie er ist – so gut und treu –“

In den Augen des kranken Mädchens flammten gleich wieder jene unruhigen Lichter auf, die ihre Beängstigung verriethen. „Nein, das sage nicht,“ entgegnete sie; „er hat uns vom Herzen des Vaters reißen wollen, und er zürnt uns gewiß, daß es ihm nicht gelungen ist. Laß uns bald zurück in die Heimath – recht bald!“

Dann, an einem Morgen, als Irmgard erwachte, sah sie ihre Mutter auf dem Stuhle an ihrem Bette sitzen und weinen. Sie richtete sich auf, legte den Arm um ihren Hals und sagte: „Warum weinst Da, Mutter? Hättest Du vielleicht doch glücklicher sein können, wenn ich gestorben wäre? Weshalb hat mich der liebe Gott denn leben lassen?“

„Nein, nein!“ rief Elise überrascht, „das sind nicht gute, fromme Gedanken, liebes Kind. Was Gott that, das ist wohlgethan, und ich will ihm danken. Es ist uns nur manchmal traurig um’s Herz, wenn wir an überwundenes Leid denken – und dann fließen die Thränen unaufhaltsam. Sie trocknen auch wieder.“

Irmgard küßte ihre Augen. Sie war nun nach der Krankheit viel milder in ihrem ganzen Wesen, viel zärtlicher und anschmiegender geworden. „Ja, wir haben viel Leid erfahren,“ sagte sie, „aber es soll uns Freude daraus erwachsen, wenn es uns ein Band wird, das uns unzertrennlich eint. Weißt Du, wie ich mir’s ausgedacht habe? Wir bleiben immer zusammen – Mutter und Tochter – lebenslang. Ich habe mir ein Gelübde gethan, daß ich mich nicht von Dir trenne, daß ich keinem Menschen angehören will, als Dir. Das werde ich halten.“

Die Mutter wollte antworten, aber Irmgard schloß ihr den Mund mit Küssen.

„Nein, sage mir nichts dagegen,“ bat sie, „es macht mich so glücklich, Dir beweisen zu können, wie wenig mir alles Andere ist und wie lieb ich Dich habe. Du bleibst bei mir, und ich bleibe bei Dir. Was zwei Menschen einander sein können, das bemühen wir uns, einander zeitlebens zu sein. Wir werden zusammen alt und grau, und vielleicht legt der gütige Gott der frommen Wittwe die Jahre zum Leben zu, die sie vor dem alten Jüngferchen voraus hat, und wir schließen zu gleicher Zeit die Augen. Bis dahin aber wollen wir thätig sein zum Wohle der Menschen. Man nennt uns reich. Um so besser, wenn wir’s wirklich sind; wir werden dann weniger beschränkt sein in unseren Wünschen für Andere und täglich unsere Freuden vermehren können. Wenn wir ein großes Krankenhaus gründen und es den Diakonissen anvertrauen, werden nicht Tausende, die darin Linderung ihrer Schmerzen oder Heilung finden, uns segnen? Wenn wir dann thätig sind mit den treuen Pflegerinnen und mit der Zeit selbst würdig befunden werden, ihren Namen zu theilen und uns ihre Schwestern zu nennen, was können wir dann vermissen, Mutter? Sage mir: so soll es sein! und ich bin bald ganz gesund.“

Elise streichelte ihr blondes, seidenweiches Haar, indem sie den Kopf an ihre Brust drückte und so verhinderte, daß Irmgard zu ihr aufschauen konnte. Auf dem Gesichte der Mutter lag ein Zug von Herbigkeit und Strenge, der ihm etwas Schreckhaftes gab. Die großen Augen blickten gerade aus in’s Weite; die Stirn hatte sich gefurcht, und um die Lippen zuckte ein bitteres Lächeln. „Es soll so sein,“ antwortete sie langsam und feierlich. „Daß Du nie bereuen mögest, Dich mir gelobt zu haben! Bedenke wohl: Wenn hinter mir jetzt die Pforte zufällt, so schließt sie sich für immer, und Du wirst ausharren müssen bei mir, wie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_043.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)
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