Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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„Ich hätte mit meinem Schwager, bevor er sich im Schlosse vorgestellt hat, wenige Worte zu sprechen. Geheim! Niemand darf davon erfahren. Werden Sie es vermitteln?“
„Gnädige Frau,“ sagte der Beamte, „Sie kennen meine Treue, meine Verschwiegenheit. Befehlen Sie über mich!“
„Wohlan! Machen Sie meinem Manne Ihre Meldung! Beordern Sie dann einen reitenden Boten, der sich bereit halte, in der nächsten Viertelstunde auf dem Wege zur Stadt zu sein, und kehren Sie darauf zu mir zurück!“
„Zu Befehl, Euer Gnaden!“
Der Rentmeister ging kopfschüttelnd zu dem Baron, den er, nach dem früher erhaltenen Befehle, sofort mußte wecken lassen.
„Aber sie ist eine brave Frau,“ sagte er sich und war doch nicht beruhigt.
Er ließ den Baron wecken und theilte ihm den Erfolg seiner Sendung mit. Der Baron rieb sich vergnügt die Hände.
„Das ist ja reizend, mein lieber Heimann. Jetzt mögen die Bauern kommen! Treffen Sie alle Anstalten für die Aufnahme der Husaren – die Appartements für meinen Bruder stehen doch bereit?“
„Zu Befehl, gnädiger Herr!“
Der Baron schlief weiter. Der Rentmeister bestellte den reitenden Boten, kehrte zu der Baronin zurück und empfing von ihr ein versiegeltes Billet ohne Aufschrift.
„Legen Sie es in ein Couvert, das von Ihrer Hand die Adresse meines Schwagers trägt!“
Nach einer Viertelstunde war der Bote mit dem Billet auf dem Wege zu der Hauptstadt der Provinz. Es war Mitternacht vorüber, als er abritt.
Nachdem an dem Tage, welcher dieser Mitternacht folgte, die Mittagstafel im Schlosse beendigt worden war und die Schloßherrschaft eine Stunde später ihre gewöhnliche Nachmittagspromenade antreten wollte, war die Schloßherrin nicht zu finden und es hieß, sie sei in den Park gegangen, wahrscheinlich um mit dem Haushofmeister Bannhart irgend etwas anzuordnen.
Im Parke war sie, und der Herr Bannhart war auch da, aber nur zufällig hatte er sie hier getroffen und zwar nicht sie allein, sie hatte ihn nicht gesehen, und er war nach langem Kampfe mit sich zum Schlosse zurückgekehrt. Das war der Moment gewesen, wo der Baron Adalbert und der Baron Kurt ihm auf dem Rückwege begegnet waren, wo er sie vergebens zurückzuhalten gesucht, sich zum grauen Pavillon zu begeben, denn dorthin hatte die Schloßherrin den Rittmeister geführt.
Die Beiden gingen Arm in Arm, fest umschlungen, in dem stillen weiten Walde, in dem sie sich allein glaubten, in dem sie die Nähe eines Menschen nicht ahnen konnten. Die Herzen, die an einander schlugen, hatten sich geöffnet. Sie hatten sich seit einer Reihe von Jahren nicht gesehen, in keiner unmittelbaren Verbindung mit einander gestanden; nur durch Dritte hatte Eins von dem Andern Nachricht erhalten, auch Grüße, kalte Grüße durch Dritte. Und ihre Herzen schlugen so heiß für einander, und sie konnten es sich nicht sagen. Heute endlich konnten sie es. Aber durften sie es?
„Das Schicksal war grausam gegen uns Beide,“ hatte er gesagt.
„Es ist noch so,“ erwiderte sie.
„Auch heute, Emma?“
„Immer! Es muß so bleiben.“
„Nein, nein, Emma! Du beschiedest mich hierher, und Du liebst mich, wie ich Dich liebe. Wir haben uns wiedergefunden, und nichts kann, nichts soll uns mehr von einander trennen. Keine Macht! Wir gehören nur uns an. Nur uns! Sage auch Du es mir!“
Seine Augen leuchteten in dunkler Gluth, und er umschlang sie mit seinen Armen, preßte sie an sein Herz. Ihre Wangen erglühten – sie zitterte.
„Du gehörst mir, Emma. O, sage es, sage es!“
„Mein Ottokar!“ flüsterte sie leidenschaftlich.
Dann bedeckte Leichenblässe ihr Gesicht; sie zitterte nicht mehr; – sie riß sich von ihm los und stieß ihn zurück. Ein lauter Schrei entfuhr ihren Lippen.
„Ich bin eine ehrliche Frau, ich will es bleiben.“ Ein Strom von Thränen entstürzte ihren Augen.
Einen Moment war der Rittmeister, der kräftige Mann, der tapfere Soldat, wie erstarrt, wie von einem schweren Schlage zerschmettert. Dann raffte er sich auf.
„Emma, verzeihe mir!“
„Nie!“ rief sie. „Nicht Dir, nicht mir!“
„Emma, meine geliebte, theuerste Emma!“
„Ottokar,“ unterbrach sie ihn. Sie war ruhig geworden; ihr Gesicht war noch mit Leichenblässe bedeckt, aber es zeigte Festigkeit und Klarheit, und fest und klar fuhr sie fort: „Wir haben eine schwere Minute hinter uns, wir haben sie überwunden, und sie soll wie eine ewige Scheidewand zwischen uns stehen. Gieb mir Deine Hand darauf!“
Sie hielt ihm ihre Hand hin, und er legte die seinige hinein; er konnte es nur zögernd thun. Sie blickte ihn fest mit klaren Augen an, und er mußte scheu seinen Blick zur Seite wenden. Sie zog ruhig ihre Hand aus der seinigen zurück.
„Gehen wir zum Schlosse!“ sagte sie.
Sie schlugen den Weg dahin ein. Ihr Gesicht blieb leichenblaß, und dunkle Röthe bedeckte das seinige. Sie sprachen kein Wort mit einander. Es war ein seltsamer Anblick, dieses schöne Paar; stumm und kalt gingen sie neben einander her, keinen Blick wechselnd, zweien Menschen gleich, die sich völlig fremd sind. Und die Liebe zu einander brannte in ihren Herzen. Das Roß des Officiers folgte ihnen, from wie ein Lamm, mit klugen Augen, als ob es Alles wisse.
Im Kruge von Waltershausen war fast die gesammte erwachsene männliche Einwohnerschaft des Dorfes versammelt. Die geräumige Gaststube hatte kaum die Hälfte der Zuströmenden aufnehmen können; man hatte sich daher zu der Kegelbahn begeben, die unmittelbar hinter dem Hause lag. Die Bauern Waltershausens gehörten zu den wohlhabendsten der Gegend; denn die Fluren des Dorfes lieferten reiche Erträge an Getreide jeglicher Art, und der vortreffliche Stand der Waldungen sicherte ihnen einen Handel mit Brenn- und Nutzholz, der bis über die Landesgrenzen hinaus eine Berühmtheit erlangt hatte. Die Abgaben der Bauern waren gering. Außer den allgemeinen Staatsabgaben, hatten sie nur an die Gutsherrschaft aus der Waltersburg einen mäßigen Zins und an den Pfarrer geringe Kalenden sowie für seine besonderen Amtshandlungen Gebühren nach dem Belieben eines Jeden zu entrichten. So hatten sie seit Menschengedenken gute Tage gehabt, und sie hatten es dankbar anerkannt, waren zufrieden gewesen, hatten sich nicht überhoben, weder gegen die Gutsherrschaft noch gegen den Pfarrer. Zu Unzufriedenheit gegen diesen wie gegen jene hätten sie auch sonst keine Veranlassung gehabt. Der alte General von Waltershausen war zwar ein rauher Soldat, der manchmal aufbrausen konnte, aber er war auch ein Mann von strengem Rechtssinn und frommen und mildem Gemüth, der keinem Menschen Unrecht thun, keinen bedrücken konnte. Sein Sohn Abalbert hatte bei aller Apathie und Beschränktheit das mildeste Herz von der Welt, was aber den Pfarrer des Dorfes betraf, so war er der Vater der Armen, der Tröster der Unglücklichen, der Stifter und Erhalter des Friedens in der ganzen Gemeinde. „Wir würden für unsern Pfarrer Reif durch’s Feuer gehen,“ sagten die Leute laut, und für seine blasse, unglückliche Tochter hatten sie eine stille Verehrung, wie für eine Heilige, wenn sie auch den Grund ihres Unglücks nicht kannten, vielleicht gerade weil sie ihn nicht kannten.
Die guten Tage, wenigstens die zufriedenen Tage der Bauern in Waltershausen sollten mit einem Male ein Ende nehmen.
Ein revolutionärer Geist hatte das deutsche Volk erfaßt. Jahrhunderte lang hatte es den Druck erduldet, die Fesseln getragen, durch welche die politische Unmündigkeit aufrecht erhalten werden sollte. Jetzt gelangte es zu dem Bewußtsein seiner Mündigkeit, und wälzte den Druck von sich, zersprengte die Fesseln. Wenn ein Strom, lange eingedämmt und in seinem Laufe gewaltsam eingehalten, seine Dämme endlich durchbricht, zersprengt und zerwühlt, so stürzt er unaufhaltsam weiter; seine Fluthen reißen nieder, was ihnen im Wege ist, zerstören Aecker, Wiesen und Weiden, Wälder, Dörfer und Städte. Sie können nicht anders; es muß so sein – es ist ein Naturgesetz.
Der Bauernstand war viele und lange Jahre der gedrückte Stand auch in deutschen Landen und zwar wohl ganz besonders
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_054.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2017)