Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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da er etwas in Gedanken hatte. Dann trank man in Hirschau den Kaffee und besuchte die uralte Linde, auf deren hohlem, bemoostem und wundersam verknolltem Stamme ein neuer Wald von mächtigen Stämmen zu wachsen schien.
Der Abend versprach sehr schön zu werden. Man beschloß, auf einem Umwege über Warnicken nach Hause zu fahren. An dem Pförtchen vor dem neuen Hôtel stieg man aus und ging sogleich in den Park. Einige Stufen führen seitwärts in die Wolfsschlucht. Harder bot den Damen seinen Arm, und Frau von der Wehr nahm ihn gern an, aber auch Irmgard weigerte sich nicht, ihm die Hand zu reichen, wenn die feuchten Steinstufen zur Vorsicht mahnten. Die Galanterie schien ihr nicht mehr, wie noch vor einem Jahre, eine sehr überflüssige Tugend zu sein, oder ihr diesmaliger Begleiter, der freilich sonst von galantem Wesen wenig an sich hatte, erfreute sich besonderer Gunst.
Je mehr die Schlucht sich vertiefte, desto mehr erweiterte sie sich auch. Das Laub der Bäume über ihnen wurde lichter, der blaue Himmel wieder sichtbar, und nun ließ sich auch ein sanftes Rauschen vernehmen wie von anschlagenden Wellen. Noch eine Biegung, und vor ihnen in dem dreieckigen Einschnitt des hohen Ufers lag die weitoffene See. Sie traten an den Strand hinaus, der mit Steinblöcken übersäet war. Tief in’s Wasser hinein zog sich das Lager, und an dem Auf- und Abtauchen der dunkeln Massen merkte man das Athmen des Meeres, von dem erfrischende Kühle dem Lande zuwehte. Die Damen ruhten auf einem breiten Stein aus; Robert lagerte sich vor ihnen in den weißen Sand. Bald aber war Irmgard wieder auf. Sie suchte kleine flache Steine, warf sie schräge gegen den Wasserspiegel und merkte, wie oft sie aufschlagen würden. Harder half ihr suchen und ermittelte die schönsten Stücke. Nun meinte sie, man sollte einmal um die Wette werfen, und wurde immer eifriger in neuen Versuchen, seine Geschicklichkeit zu überbieten. Er ließ ihr den Sieg. „Nein, das gilt nicht,“ rief sie, ich habe wohl gesehen, „daß Sie nicht mit aller Kraft werfen.“ Er überholte sie nun so weit, daß sie den Kampf aufgab. „So, nun bin ich zufrieden,“ sagte sie. Das Gesicht glühte ihr.
Man stieg wieder hinauf und wandelte unter den schattigen Riesenbäumen hin, die scharf an der Uferkante gegen das Meer hin Wache stehen. Und dann ein Sonnenuntergang über dem Meere, von der hohen Fuchsspitze aus genossen, und eine Rückfahrt im Mondschein! Das war ein herrlicher Tag, gestand sich der Architekt. Aber wie konnte dieses reizende, jugendfrische Mädchen auf den Gedanken kommen, nicht zu heirathen und ein Siechenhaus zu gründen! philosophirte er. Jede Marotte muß doch wenigstens einen Scheingrund haben, aber hier … Man merkt nicht einmal, daß die Melancholie der Mama ansteckend gewesen. Nun – was kümmert’s mich? Ich baue. –
Am nächsten Vormittag war er schon zeitig im Zelt. Irmgard behandelte ihn jetzt mit aller Vertraulichkeit wie einen alten Bekannten. Sie zeigte ihm unaufgefordert ihre Malerei, bei der sie die Morgenstunden verbracht hatte, und klagte, daß sie den düstern Ton gar nicht treffe. „Ich würde Ihnen schwerlich den Vorschlag gemacht haben,“ sagte er, „wenn ich Sie damals gekannt hätte. Sie müssen immer blauen Himmel und heiteren Sonnenschein malen.“
„O, Sie kennen mich auch jetzt noch gar nicht,“ versicherte sie ganz ernst, „ich kann auch furchtbar schwermüthig sein.“
Er mußte lachen, und sie lachte mit.
„Sie mögen’s glauben oder nicht,“ schmollte sie dann. „Und jedenfalls habe ich das Bild nun einmal angefangen und will’s auch fertig in meiner Mappe sehen.“
„Zum Andenken an den unartigen Menschen,“ setzte er hinzu, „der die Zeichnung tadelte.“
„Gut – auch das!“ sagte sie nach kurzem Besinnen. „Ganz aufrichtig, ich habe mich so sehr über Sie geärgert … aber Sie hatten ganz Recht.“
Er nahm ihr den Pinsel aus der kleinen Hand und legte nach seinem Sinn die Grundfarbe auf. Sie beugte sich vor und sah ihm zu. „Was Sie aber für Courage haben!“ rief sie mit aufrichtiger Bewunderung.
„Ich gebe nur im Ganzen die Stimmung an,“ meinte er, „die Ausführung in allem Einzelnen bleibt Ihnen.“
Abends wurde ein gemeinsamer Spaziergang nach der Sassauer Gräberei unternommen. Der Weg führte den Bach entlang und bald auch an den weißen Sandbergen hin. Man mußte die Sandzungen überschreiten, die sich über das Wiesengrün vorstreckten und an einigen Stellen den Bach halb verschüttet hatten. Das Gespräch kam ganz von selbst auf diesen sehr traurigen Anblick. Da zeige sich recht auffällig die zerstörende Gewalt der Natur, äußerte Harder, in der nur das Uebermächtige Recht habe. Dieser Thalgrund sei recht dazu geschaffen, eine grüne Wiese zu tragen, und jeder Grashalm scheine auch zu sprechen: Ich kann und ich will leben. Und nun lege sich der Sand recht wie eine Leichendecke darüber, nicht den Tod verhüllend, sondern das Leben erstickend. Frau von der Wehr hörte ihm aufmerksam zu.
„Ist es nicht mitunter auch Menschenschicksal,“ sagte sie mit einem leisen Seufzer, „lebendig begraben zu werden? Es giebt solch grünes Leben, über das der Sand hinweht; es wehrt sich gegen seinen Druck; es möchte ihn abschütteln – vergebens. Körnchen sammelt sich zu Körnchen, bis nach Jahren Niemand mehr weiß, was die Wüste deckt.“
Irmgard war nachdenklich geworden; sie blieb einige Schritte zurück. Als Harder nach ihr umschaute, bemerkte er, daß sie die Augen gesenkt hatte. Es war ihr nicht nur eine allgemeine Sentenz, was ihre Mutter so wehmüthig geäußert hatte.
Sie überschritten den Kamm und stiegen auf der anderen Seite in den gewaltigen Kessel hinunter, den die Bernsteingräber gegen die See hin ausgehöhlt hatten. – Der Tag schloß mit einer Fahrt auf dem Mühlenteiche, bei der sich jedoch Frau von der Wehr nicht betheiligte. Sie fahre ungern auf dem Wasser, sagte sie. Dem jungen Manne war es nicht unlieb, mit Irmgard im Boot allein zu sein. Sie wollte in die Bucht, in der die weißen Mummeln schwammen, bückte sich über den Rand des Bootes und zog sie an ihren langen Stengeln aus dem Wasser. Er glaubte sie halten zu müssen, damit sie nicht in den Teich falle. Sie ließ es lachend geschehen. Dann ruderte er langsam am Gebüsche entlang, immer den Blick auf ihre Hand gerichtet, die bemüht war, aus den weißen Blumen einen Kranz herzustellen. „Die Wassernixen tragen solche Kränze,“ sagte sie, „wenn sie im Nebel tanzen.“
„Und für wen ist dieser?“ fragte er.
Sie schien zu überlegen. „Für den Wassermann!“ rief sie dann und schleuderte den Kranz weit hinaus.
Er lenkte das Boot dorthin. „Der will ich sein,“ sagte er und fischte ihn auf. –
Am andern Tage kam Rath Pfaff. Er brachte den Referendar Hell und drei andere junge Herren mit, die zusammen ein Sängerquartett bildeten und Abends auf dem Teiche „eine Vorstellung geben“ wollten. Darauf sollte im Saale des Gasthauses getanzt werden.
Während sie die nöthigen Vorbereitungen trafen, wurden im Zelt die Pläne vorgelegt. „Beste Cousine,“ äußerte sich der Rath, „Sie wissen, daß ich kein Freund von dem ganzen Project bin. Wollen Sie einmal in Ihrem Testamente Ihr Vermögen oder einen Theil davon einem wohlthätigen Zwecke bestimmen, so wird man das sehr löblich finden, und ob Irmgard in ähnlicher Weise über das ihrige verfügen will, wenn sie keine anderen Verpflichtungen hat, kann ihr überlassen bleiben. Jetzt aber gleichsam mit der Welt abschließen, sich ihrer Güter entäußern und alle Gedanken auf den Himmel richten – ich begreife weder das Bedürfniß, noch die Nothwendigkeit. Ich beschwöre Sie, theuerste Cousine, geben Sie ein Vornehmen auf, das zugleich für Ihres Kindes ganzes Leben bestimmend werden muß, für ein Leben, das kaum angefangen hat, sich zu entfalten.“
Frau von der Wehr sah finster vor sich hin. „Es handelt sich um etwas Unabänderliches,“ sagte sie. „Eine nähere Erklärung muß ich Ihnen schuldig bleiben, aber glauben Sie meiner Versicherung, daß hier vollendete Thatsachen den Ausschlag geben. So viel nur darf ich zu meiner Rechtfertigung sagen, daß die Idee von Irmgard selbst ausgegangen ist, daß ihr Wille geschieht.“
Der Rath schüttelte bedenklich den Kopf. „Dann ist sie um so ungesünder. Ein so junges Geschöpf, so unerfahren, ist unkundig der eigenen Wünsche und Neigungen … Beste Cousine, Sie dürfen da nicht als schwache Mutter nachgeben. Wenn ich sehe, welche Veränderungen ein einziges Jahr hervorgebracht hat! Irmgard ist in ihrem ganzen Wesen kaum wiederzuerkennen,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_077.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2021)