Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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die Regierung, was kann sie, die all ihr Geld – ihr Geld? – für den Krieg verbraucht, was kann sie denn mehr geben, als den einen Thaler monatlich? O, dieser Invalidenthaler ist das entsetzlichste Zeichen der Zeit, von dem und von der die spätesten Jahrhunderte als Zeichen und Zeit der tiefsten Verkommenheit noch reden werden. – Hier, gebt dem Burschen heute vier Thaler! Er hat mir einmal wieder eine wohlthätige Gemüthsbewegung gemacht. Die ewige Ruhe bringt oder ist eigentlich schon Fäulniß. Er soll mir aber nicht vor die Augen kommen.“
„Wollen der Herr Doctor auch nicht hören, was er erzählt hat?“ fragte die alte Magd.
„Nein!“
„Aber es könnte uns hier nahe angehen.“
„So werde ich es ohnehin erfahren.“
Die alte Margarethe mußte dennoch ihre Neuigkeiten an den Mann bringen. „Die Bauern im Dorfe,“ sagte sie, „sind in voller Revolution. Der Bauernadvocat ist da und hetzt sie gegen die Schloßherrschaft, ja gegen den braven Pfarrer. Es soll Alles fortgejagt werden.“
„Ja, ja! Geht jetzt!“
„Noch heute fortgejagt werden,“ fügte Margarethe noch schnell hinzu. Dann folgte sie dem Diener, der schon gegangen war.
Die Jungfernrede des deutschen Kronprinzen. Bei seiner letzten Anwesenheit in dem altehrwürdigen Cöln besuchte der deutsche Kronprinz in Begleitung des Oberbürgermeisters Dr. Becker den bekannten Isabellensaal im Gürzenich. Als der Kronprinz in den Saal eintrat, schaute er sich um, und auf eine Stelle hinweisend, wandte er sich an Dr. Becker mit den Worten:
„Sehen Sie, Herr Oberbürgermeister, an dieser Stelle habe ich einmal im schwersten Sinne des Wortes Blut geschwitzt.“
„Wieso, Kaiserliche Hoheit?“ fragte Dr. Becker, erstaunt darüber, daß ein so hoher Herr gleich anderen Sterblichen auch „Blut schwitzen“ könne, wie man zu sagen pflegt, wenn man sich in einer fürchterlichen Verlegenheit befindet und vergeblich Alles aufbietet, sich aus derselben zu befreien.
In seiner liebenswürdigen, jovialen Weise, die ihn überall so außerordentlich beliebt gemacht hat, erzählte der Kronprinz sodann Folgendes:
„Es war während der ersten Zeit meines Bonner Universitätbesuches, als mir mein Vater einst in einem Briefe unter Anderem schrieb, daß ich zu einer Feierlichkeit in Cöln, welche hier im Isabellensaale stattfinden solle, eingeladen werden würde, und daß ich dieser Einladung würde Folge leisten müssen. Nun kenne ich meinen Vater und weiß, daß, wenn er in einem solchen Tone redet, dies einem Befehle gleich kommt und er keinen Widerspruch duldet. Ich nahm daher, als die Einladung kurz darauf an mich erging, dieselbe an und sagte mein Erscheinen bei dem Feste zu. Es war dies die erste Festlichkeit, welcher ich officiell als Repräsentant meines Hauses beiwohnte, und da ich voraussichtlich als solcher von den Festgebern begrüßt werden würde, so setzte ich mir eine Rede auf, die ich als Antwort aus jene Begrüßung halten wollte. Ich lernte diese Rede auswendig, und bald konnte ich sie zu meiner Freude den Wänden meines Studirzimmers ganz flott und ohne zu stocken vordeclamiren. So vollständig auf die Dinge, die da kommen sollten, gerüstet und vorbereitet, reiste ich am Tage des Festes seelenvergnügt nach Cöln, begab mich zur festgesetzten Stunde in den Isabellensaal und wurde hier mit Herzlichkeit empfangen. Das Fest nahm seinen frohen Verlauf, und als die erwartete feierliche Ansprache an mich vorüber war, erhob ich mich von meinem Platze und begann: ‚Meine Herren!‘ – Aber so ausgezeichnet ich auch vorher meine Rede konnte, so ohne Anstoß ich sie auch kurz vor dem Eintritt in den Isabellensaal mir noch einmal recapitulirt hatte – jetzt, wo ich Aller Augen auf mich gerichtet sah, jetzt konnte ich den Anfang nicht finden. Vergeblich suchte ich mich in der Eile auf denselben zu besinnen – umsonst, umsonst! Der Faden war wie völlig abgeschnitten. ‚Meine Herren!‘ begann ich nochmals, einen neuen Anlauf nehmend, hoffend, daß ich nunmehr den Anfang der Rede treffen würde – eitles Bemühen! Denn auch jetzt wollte sich meine so schön einstudirte Rede vor dem geistigen Auge nicht aufrollen. Und doch hingen Aller Blicke an meinem Munde, meiner Rede erwartungsvoll entgegensehend; Todtenstille herrschte im ganzen Saale. Heiße Angst überfiel mich, dicke Schweißtropfen perlten an meiner Stirn; tausend Gedanken flogen blitzschnell durch mein fieberndes Hirn: sollte ich, ein Hohenzoller, mir das Armuthszeugniß geben müssen, keine freie Rede halten zu können? Ein Armuthszeugniß, mir selbst ausgestellt vor Leuten, die womöglich meine Unterthanen werden würden, wenn – was Gott noch recht lange Zelt hinausschieben möge – ich einst König geworden? Nein, das konnte, das durfte nicht sein, und mit einer Verzweiflung, die nur derjenige kennt, der sich in ähnlicher Lage befunden, erhaschte ich ein Wort, welches, als in der Mitte meiner Rede stehend, mir einfiel, sprach es aus, erinnerte mich jetzt der nächstfolgenden Worte und – ich hatte den Faden meiner Rede. Zwar hatte ich diesen nur von der Mittel an, allein ich wurde jetzt sicher, verflocht gelegentlich die Gedanken des ersten Theiles der Rede mit denen des zweiten Theiles, damit Logik, sowie der richtige Sinn der Rede herauskäme, und schloß dieselbe sodann genau mit den Worten, die ich mir als effectvolle Schlußworte in dem Concepte meiner Rede niedergeschrieben hatte. Wie froh, wie glücklich war ich, als ich mich wieder niedersetzte! Und mit heiterem Sinne, wie ihn nur innere Selbstzufriedenheit zu schaffen vermag, wohnte ich sodann dem Feste bis nahe zum Schlusse bei. Sehen Sie, lieber Herr Oberbürgermeister, das war meine Jungfernrede, und nun glauben Sie bei den dieselbe begleitenden Umständen mir wohl, wenn ich vorhin sagte, daß ich damals Blut geschwitzt habe.“
Und lachend zeigte er Dr. Becker nochmals die Stelle, von welcher aus er damals die Rede gehalten und an der er „Blut geschwitzt“ hatte – letzteres vielleicht zum ersten und letzten Male in seinem Leben, trotz der vielen Schlachten, die er später siegreich schlug und in denen er oft sein Leben den feindlichen Kugeln aussetzte, wo also minder Tapfere als er wiederholt Gelegenheit zum „Blutschwitzen“ gehabt hätten. –
Welcher Redner erinnerte sich bei dieser Erzählung nicht an seine eigene Jungfernrede, bei der er vielleicht, gleichwie der künftige deutsche Kaiser, ebenfalls „Blut geschwitzt“ hat?
Eine Episode aus dem Leben Karl von Holtei’s. Graz hat inmitten der Stadt einen prachtvollen, vom Erzherzog Johann gestifteten Garten. In der botanischen Abtheilung dieses Gartens waren im Sommer des Jahres 1850 fast täglich, Morgens von vier bis fünf Uhr, zwei Hörer der Technik zu sehen, welchen regelmäßig um diese Zeit ein promenirender Herr dadurch auffiel, daß er einen großen Regenschirm in verticaler Richtung auf dem Rücken mit beiden Händen festhielt. Diesem Herrn fielen ebenso die beiden Studenten auf, weil sie so zeitig schon ihren Studien oblagen.
Eines Morgens geht der Herr mit dem Regenschirme auf die beiden Studenten los und redet sie also an: „Guten Morgen, meine Herren! Sie gefallen mir, denn Sie sind fleißige Studenten, und es soll mich freuen, Ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Wenn ich Ihnen in irgend etwas nützen kann, so besuchen Sie mich!“ Damit überreichte er den Studenten seine Karte und ging seiner Wege.
Auf der Karte stand: „Karl von Holtei.“ Die beiden Studenten waren arme Tiroler, die sich in Graz mit Lectiongeben spärlich ihren Unterhalt erkämpften. Unweit des Gartens befand sich ein den Landständen gehöriges Gebäude. In diesem Gebäude waren im ersten Stocke ein Speisewirth, im zweiten eine Speisewirthin etablirt. Die Letztere, eine gutherzige Wittwe, gab gute und billige Kost und, was die Hauptsache war, gerne und viel auf Credit, sodaß sich hierdurch namentlich unbemittelte Studenten magnetisch angezogen fühlten. Darunter litt der Wirth des ersten Stockes von Tag zu Tage mehr, weil fast alle seine Kunden mit der Zeit zur Befriedigung ihres Magens eine Treppe höher stiegen. Der Speisewirth brütete Rache, und es kam ihm höchst erwünscht, daß für seine begünstigte Nebenbuhlerin die Gewerbslicenz dem Ablaufe nahe war. Es gelang ihm, die Wirthin bei den betreffenden Behörden so zu verdächtigen, daß es dieser, trotz aller Versuche, nicht möglich war, eine Erneuerung ihrer Gewerbslicenz zu erreichen.
Eines Mittags wird einer der obenerwähnten Studenten in das Privatgemach der Speisewirthin gerufen, wo ihm diese unter bitteren Thränen mittheilt, daß sie, so leid es ihr thue, von ihm das für langes Borgen rückständige Geld sofort haben müsse, weil man sie zwinge, das Geschäft und Graz zu verlassen. Der Student betheuert, daß er jetzt nicht zahlen könne, und die weinende Frau klagt, daß sie von dem herz- und gewissenlosen Menschen unter ihr in infam verleumderischer Weise um Ehre und Existenz gebracht worden sei und daß sie verzweifle, weil ihr wiederholtes Petitioniren und Klagen vergeblich gewesen wäre.
Da schießt plötzlich dem Studenten eine Idee durch den Kopf, und er ruft: „Gedulden Sie sich noch bis morgen, und klagen Sie nicht mehr, denn ich hoffe, daß Ihnen wird geholfen werden.“ Der Student geht geradeswegs zu Karl von Holtei, schildert diesem schlicht und offen seine und der Wittfrau Lage und betheuert der Letzteren Güte und rechtschaffenen Charakter. Holtei fordert den Studenten auf, ihm die betreffende Frau zu schicken, und versichert, wenn sich die Sache in Wahrheit so verhalte, wie er sage, so werde der Frau geholfen werden. Acht Tage später hatte die Frau eine neue Geschäftslicenz und die hergestellte Ehre, der Student aber erneuerten unbeschränkten Credit.
Seither hängt im Schlafgemache der Frau in vergoldetem Rahmen das Bild Karl von Holtei’s, das alljährlich am Erinnerungstage mit frischen Blumen geschmückt wird.
Für Haus und Geschäft. Wenn gesprochene oder gedruckte Rathschläge überhaupt auf große Massen noch nützlich wirken können, so ist ein kürzlich von Fritz Kalle unter dem Titel „Wirthschaftliche Lehren“ veröffentlichtes Büchlein sicher zu großem und segensreichem Einfluß berufen. Der liberale Industrielle und frühere preußische Landtagsabgeordnete, berühmt auch als der eigentliche Begründer und als emsiger Förderer der „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“, bietet mit diesem Werkchen etwas dar, was längst von allen wahren Vaterlandsfreunden für unsere gegenwärtigen Verhältnisse sehnsüchtig herbeigewünscht, aber von manchen Seiten her vergeblich angestrebt wurde. Eine gemein
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_107.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)