Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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„Wohnt hier Jonathan Wilson?“ fragte ich einen stattlichen Mann mit gebräuntem Gesicht und grauem Bart, der vor dem Hause saß.
„Der bin ich selbst,“ erwiderte er, sich von der Bank erhebend; „wer seid Ihr?“
„Wer wird der Mann sein, der von Ohio nach Canada reist, um Jonathan Wilson zu sehen?“ fragte ich.
Er forschte eine Weile in meinen Zügen und rief dann: „Von Ohio? Dann seid Ihr der Mann, dem ich Alles verdanke; o guter Herr, tretet ein!“ Wir drückten uns die Hände, dann aber sagte er mit feuchtem Blick: „Nein, für so viel Freundschaft muß ich Euch anders danken,“ und schlang seine Arme um meinen Hals. Schweigend führte er mich in eine große Stube zu ebener Erde, wo ein junges Mädchen vor einer Schüssel saß und glänzende Bohnen aus den grünen Schoten streifte, welche, ein ganzer Hügel, auf dem Tische lagen.
Sie erhob sich erst, als Wilson sagte: „Eleanor, das ist der Mann, der Deiner Mutter und mir das Leben rettete.“
Mit schnellen Schritten trat sie zu mir und sagte: „Herr, ich bin kein feines Mädchen; ich bin im Walde erzogen und weiß nicht viel zu sprechen, aber ich habe ein dankbares Herz.“
Sie sprach mit Befangenheit, aber ihre Haltung und ihr Blick waren sicher; ihre Gestalt war klein, aber von stolzem Ausdruck.
„Sie hat die Züge der Mutter,“ sagte ich, „und die Farben des Vaters: goldenes Haar und veilchenfarbene Augen.“
„Nein,“ meinte Wilson, „die Augen hat sie von der Mutter.“
„Ich glaubte, Eure Frau hätte graue Augen gehabt.“
„Für andere Leute, ja, aber nicht für mich. Wenn sie mich ansah, waren ihre Augen wie zwei Veilchen. O Herr, die Wunder der Liebe –“
Eleanor entfernte sich. Es ward mit der Dämmerung kühl; Wilson warf zwei ungeheure Holzblöcke in den großen Kamin und entzündete sie mit einer brennenden, träufelnden Harzfackel. Ein köstlicher Geruch durchdrang die Stube; eine mächtige Lohe flammte auf und warf ihren rothen Schein auf den gescheuerten Boden und die Wolfsfelle, die ihn zum Theil bedeckten.
Nachdem ich mich mit Wildbraten gestärkt und Wilson die Fensterladen, Haus und Stall geschlossen hatte, setzten wir uns zur Seite des Kamins.
„Wilson,“ sagte ich, „Ihr seid früh grau geworden.“
„Früher, als Ihr glaubt, mein Freund,“ erwiderte er, in das Feuer schauend. „Eleanor hat die blonde Farbe meines Haares lieb gehabt; als sie starb, nahm sie die Farbe mit.“
„Wißt Ihr, Wilson, daß, seit ich den canadischen Wald gesehen, ich die Städte hasse und die sogenannte Civilisation?“
Wilson lächelte: „Ja, ja, ich verstehe Euch und muß Euch Recht geben. Das Leben in den Städten verdünnt das Blut; es macht uns krank an Leib und Seele.“
„Wenn ich noch jünger wäre, Wilson, bei Gott, ich würde bei Euch bleiben!“
„Versucht es einmal! Allein ich fürchte, Ihr seid die Stadt, den steinernen Gürtel, der Euch so viele Jahre eingeengt, zu sehr gewöhnt, um ihn nicht zu vermissen. Die Größe dieser Einsamkeit würde Euch nicht langweilen, o nein, aber sie würde Euch entsetzen.“
„Entsetzen?“
„Ja, lieber Freund. Ich habe in den ersten Jahren meines Waldlebens Tage gehabt, wo ich glaubte, wahnsinnig zu werden. Nie habe ich vor den Thieren des Waldes gezittert, aber vor dem Walde selbst. Die Tannen und Kiefern, diese stummen Kolosse mit Aesten, wie schwarze ausgespannte Flügel, die Bewegungen und das Säuseln des Laubes, das Glitzern im Moos, das in langen Büscheln von den Aesten der Nadelhölzer niederhängt und im Winde weht, die Stimmen der Quellen, der Bäche und Katarakte, der Schrei der Vögel und das melancholische Girren der Wildtauben, der dröhnende Hall niederstürzender Bäume und, mein Freund, die furchtbare Stille – das hat mich oft bis in’s Mark der Gebeine frieren gemacht. In solchen Stunden war die Natur für mich ein Orakel und ich selber war der Priester, der auf dem Dreifuße sitzt und dem das Herz im Leibe zittert und das Haar auf dem Haupte sich sträubt.“
„Ist es wahr, Wilson, daß man im Walde wieder an Gott glauben lernt?“
„An Gott glauben?“ sagte er sinnend; „was denken wir uns eigentlich unter ‚Gott‘? Ich finde, daß die Indianer das beste Wort für ihn haben; sie nennen ihn den ‚großen Geist‘ und ahnen in ihrer Naivetät nicht, wie viel sie damit sagen. Als ich noch in den Städten lebte und mich zu unterrichten suchte, las ich allerlei gelehrte Subtilitäten, aber das Hirn wurde mir schwach davon und Glaube und Hoffnung schwanden mehr und mehr. Hier, in den canadischen Einsamkeiten, habe ich mehr als einmal die Fittige des ‚großen Geistes‘ rauschen hören, und von seiner Stimme kam ein geheimnißvoller Hauch zu mir. Euch, lieber Freund, der viel mehr denkt als ich, Euch würden diese Einsamkeiten tiefsinnig machen. Man erträgt sie nur, wenn man durch körperliche Arbeit und Jagd die Gedanken und die feineren Sinne in den Hintergrund drängt. Man muß ein wenig Indianer werden.“
„Indianer! Ich habe Einen getroffen, der wahrlich kein geringer Mensch ist. Er kennt Euch und geleitete mich bis vor den Wald. Er lief, nackt und ein Messer in der Hand, einem Bären entgegen, als wäre es ein zahmer Hund.“
„Dann war es mein Freund Creek,“ rief Wilson.
„Ja, so nannte er sich. Aber ich glaubte, dies sei der Name des Stammes und nicht der seine.“
„Es ist der Name des Stammes und der seine. Creek wird von allen Amerikanern, die ihn kennen, seines festen und zuverlässigen Charakters wegen geachtet und seiner Stärke und seines Muthes wegen bewundert. Er ist der Stolz seines Stammes und der Schrecken seiner Feinde.“
„Und doch scheint er noch jung zu sein.“
„Er ist einundzwanzig Jahre alt.“
„Ich bekenne Euch, Wilson, daß er eine wahre Verzauberung auf mich ausübte und daß ich mir sehr klein, sogar erbärmlich neben ihm erschien.“
Wilson lachte. „Er kann schrecklich sein und doch auch wieder sanft. Wenn er zu mir kommt, ist er still und scheu wie ein Kind.“
Auf meine Frage, wie es komme, daß er die Briefe der amerikanischen Jäger an die Compagnie befördere, antwortete Wilson:
„Die Creeks sind in Verbindung mit der Compagnie; sie liefern Felle und erhalten Geld dafür. Da sie aber von den Unterhändlern betrogen wurden, zogen sie es vor, direct mit der Compagnie zu verhandeln, und wählten zu ihrem Repräsentanten Creek, weil er der Intelligenteste und Muthigste des Stammes ist. Den Beamten der Station gefiel sein würdiges Benehmen, und sie anerkannten seine Zuverlässigkeit. Seit zwei Jahren schon vertrauen sie ihm Briefe und selbst Geldsendungen an die Jäger an, welche im Gebiete der Creeks sich angesiedelt haben, und auch die königliche Landvermessung betraut ihn mit Briefen an die verschiedenen Stationen. Seine Körperkraft und Gewandtheit sind nicht minder groß, als seine Verwegenheit. Wenn er auf die Büffeljagd geht, beschützt er seinen Körper so wenig, wie wenn er den Bären herausfordert. Mit Messer und Speeren bewaffnet, schwingt er sich auf sein Pferd, und wenn er eine Büffelheerde gefunden hat, reitet er mitten hinein, wenn er aber darinnen ist, schwingt er sich, immer mit der wüthigen Heerde fortreitend, von seinem Pferde auf einen Büffel und wirft seine Speere nach ihnen, bis er so viele erlegt hat, wie er sich zu erlegen vorgenommen. Ich sah ihn einmal auf seinem Pferde wie ein rasender Gott dorthinfliegen, von wo das Stampfen und das Gebrüll der Büffel herdrang. Ich folgte ihm, aber ich hatte nicht seine Feuernatur. Mein Pferd blieb ein Pferd; das seine ward unter ihm ein Vogel. Bald sah ich nur noch seine Sporen in der Sonne blinken, und als ich ihn endlich erreichte, war die Büffelheerde entflohen; er stand zwischen sieben erlegten Büffeln und sah ruhig seinem grasenden Pferde zu. Auf dem Heimritte überfiel uns ein furchtbares Gewitter; bleischwarze und fahlbraune Wolken flogen mit dem Sturme; die Blitze fuhren bis zu unseren Füßen herab, und der Hagel fiel auf uns wie ein Steinregen. Creek, der, wie immer, wenn er jagt, völlig unbekleidet war, lachte, als der Hagel auf ihn schlug, und als ich bei einem Donnerschlage, der Himmel und Erde schien zertrümmern zu wollen, sagte: ‚Creek, heute kann es uns schlimm ergehen,‘ erwiderte er gelassen: ‚Der große Geist hat eine schöne Stimme.‘“
Ich hörte Wilson mit jenen Gefühlen zu, mit welchen man in der Jugend von den Helden des Alterthums erzählen hört.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 666. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_666.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)