Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
|
indem er stürmisch ihre Hände ergriff. Einzige Großmama, sei gut! Sage mir, erwähnte sie etwas von ihr, von Blanka? Denkt sie, daß mich Blanka auch liebt?“
Army! Mein Gott, wie unfein! Mäßige Dich! Wer spricht von Blanka? Ich habe gar nichts gesagt – verstehst Du? Gar nichts; wer denkt daran? Du bist ja erst einundzwanzig Jahre.
Aber Army hatte die Arme um den Hals der Großmutter geschlungen und drückte trotz ihres Widerstrebens ein paar herzhafte Küsse auf ihren Mund, und dann stürmte er höchst unceremoniell aus dem Zimmer.
„Orribile!“ sagte die alte Dame, ihr Spitzenhäubchen zurecht rückend, „er muß sie bereits ganz schrecklich lieben; wenn ihn die Stontheim jetzt gesehen hätte, würde sie kaum noch an den Derenberg’schen Charakter glauben.“ Sie blieb sinnend stehen und schien in der Vergangenheit nach etwas zu suchen das sie an das eben Erlebte gemahnte. Plötzlich tauchte eine Erinnerung aus besseren Tagen in ihr auf; sie sah sich als junges schönes Mädchen, wie sie im glücklichen Rausch der halbblinden Duenna um den Hals fiel und sie stürmisch küßte. Und warum? Weil draußen auf dem Balcon unter dem blühenden Oleander in der weichen Abendluft ein schlanker blonder Mann in fremdklingendem Italienisch ihr so viel erzählt hatte von einem alten deutschen Schlosse inmitten grüner Eichenwälder, und von einer alten deutschen Frau mit treuen blauen Augen ... Ein milder Zug legte sich um ihren Mund, als sie an den Jubel ihres jungen Herzens dachte. „Er hat doch mein Blut in den Adern“ sagte sie dann, „gebe Gott, daß ihm das Leben seine Wünsche treuer erfüllt, als mir!“ Dann setzte sie sich in den Sessel vor ihren Schreibtisch und malte sich die Zukunft aus, die eben in rosigem Schimmer zu dämmern begann, und vor den Augen der sinnenden Frau stand wieder das alte Schloß in all dem Zauber, der es einst umwob.
Unterdessen trieb es Army in stürmischer Unruhe im Park umher. Er hatte vorhin seine Schwester beinahe erdrückt und ihr etwas Unverständliches erzählt von einem neuen Kleide, einem blauen, wie Blanka es tragen er hatte der Mutter, die des Sohnes aufgeregtes Wesen gar nicht begreifen konnte, von der Nothwendigkeit gesprochen, ihre leidende Gesundheit durch den Besuch eines Bades zu unterstützen, und sei es nicht in diesem, so doch bestimmt im nächsten Jahre. Er war dann mit Nelly und dem alten Heinrich in den Zimmern gewesen, die er für Blanka ausersehen, und hatte hier angeordnet und dort befohlen; die Schwester hatte ihm ihr Nähtischchen versprechen müssen und die Blumenetagère der Mutter; dann hatte er die Vorhänge und die Bilder getadelt, hatte letztere herausgenommen und andere dafür aufgehangen und Nelly mehrmals erklärt, er werde Teppiche und Vorhänge aus seiner Garnison besorgen statt des alten verschossenen Zeugs und auch eine neue Livrée für Heinrich. Zuletzt hatte er die Schwester umfaßt und gefragt, ob sie wohl glaube, daß es Blanka hier ein wenig gefallen könnte, und ob sie nicht auch finde, daß von diesem Zimmer die schönste Aussicht sei? Und ohne ihre Antwort abzuwarten, hatte er hinzugefügt: „Nein, Schwesterchen, was Du Dich wundern wirst, wenn Du sie siehst, was Du Dich wundern wirst!“ Darauf war er hinausgegangen in den alten Park und wanderte nun mit hastigen Schritten durch die verwachsenen Gänge; er sehnte die Stunde der Abreise herbei, um ihr bald sagen zu können, wie man sich zu Hause freue auf ihren Besuch – und endlich wurde es Abend, und er schritt nach kurzem Abschiede mit einem aus vollstem Herzen gesprochenen „Auf frohes Wiedersehen!“ in der duftenden Frühlingsnacht dem Dörfchen zu, um die Post zu benutzen. Am Parkgitter pflückte er noch einen vollen lila Fliederzweig, einen Gruß aus seiner Heimath für Blanka. Und endlich, endlich blies der Postillon und er fuhr hinaus in das stille Land mit tausend glückseligen Gedanken.
Dort drüben aber in der Mühle, da öffnete sich leise ein Fenster und ein brauner Mädchenkopf bog sich heraus und sah mit feuchten sehnsüchtigen Augen zu der Landstraße hinüber. Sie wußte, daß er heute Abend wieder abreisen werde; er hatte es ihr ja selbst gesagt, und sie hatte auf ihn gewartet und gewartet den ganzen Tag, aber er war nicht gekommen; und horch! da schallte das Posthorn herüber durch die stille Nacht. Wie traurig das klang! Vom Walde tönte leise ein Echo zurück, und sacht, ganz sacht schloß sich das Fenster wieder.
Am andern Tage war schlechtes Wetter. Der Himmel hatte sich mit einförmigem trübem Grau bezogen, und ein leiser Regen fiel in die Apfelblüthenpracht und in den Flieder. Lieschen stand am Nachmittage oben in ihrem Stübchen und schaute mit trauriger Miene über den nassen Garten hinweg nach dem Schlosse, dessen Thürme wie in graue Schleier gehüllt erschienen.
Das war so ein recht verkehrter Tag heute – alle Welt machte ein böses Gesicht; der Vater hatte etwas Unangenehmes im Geschäft gehabt; die Muhme war ärgerlich, weil Dörte die Stallthür nicht geschlossen, hinter welcher die Pute mit ihren sieben Kücken wohnte, die nun im Regen spazieren ging, was gegen alle Vorschriften verstieß: die kleinen Dinger würden nun alle crepiren, prophezeite sie, und säßen schon da und verdrehten die Augen; die Dörte hatte tüchtig Schelte bekommen und ging ganz betrübt und mit rothgeweinten Augen im Hause umher; und zu alledem war heute gar noch der junge Herr Selldorf eingetroffen, der bei dem Vater in’s Geschäft treten wollte, und hatte am Familientische mit gespeist. Sonst aßen die Herren vom Geschäft drüben in dem Hause, das sie bewohnten, denn Herr Erving ließ sich nicht gern im Kreise der Seinen stören; allein heute machte er eine Ausnahme, weil er mit dem Vater des jungen Mannes eng befreundet war. So hatte denn nun der blondgelockte Herr mit der große blauen Cravatte der Liesel gegenüber gesessen und sie mitunter angeschaut, was doch ganz gewiß gar nicht nöthig war, und dabei hatte sich das Gespräch um den Herrn Vater, um den Stand des Geschäftes und das Befinden der Frau Mutter gedreht, und das war Alles so erschrecklich langweilig gewesen. Dazu kam noch, daß Lieschen vergessen hatte, ihre Taube zu füttern, zum ersten Male, so lange ihr dieses Amt oblag, und nun mußte sie sich auch noch über sich selbst ärgern – was mochte ihr nur sein? Und dann fiel ihr der gestrige Tag ein, wo sie mit ihrer Arbeit unter der Linde vor der Hausthür gesessen, bis es dunkel wurde, und allemal wenn dort drüben zwischen den Bäumen eine Gestalt auftauchte, dann war sie erschrocken, und das Herz hatte ganz gewaltig gepocht, und dann war es stets ein ganz gleichgültiger Mensch gewesen, der des Weges kam, zuletzt gar das alte Weidner Mariechen, die immer betteln ging, und endlich – da war sie hinaufgegangen und hatte geweint.
Sie schüttelte fast unwillig den Kopf, als sie es sich eingestehen mußte, und erröthete über und über, als sie nun auch daran dachte, daß sie gestern Abend noch einmal aufgestanden sei, nur weil ihre Gedanken sie gar nicht schlafen lassen wollten, um das Fester zu öffnen und dem Posthorn zu lauschen, das der Schwager vom Bocke des Wagens blies, in dem der Army – ja der Army, so bald wieder davon fuhr. –
„Daß es auch so häßliches Wetter ist!“ sagte sie plötzlich halblaut, indem sie Geibel’s Gedichte vom Bücherbrette herunternahm, „sonst käme doch am Ende die Nelly her.“ Sie setzte sich auf das kleine Sopha, stützte den Kopf in der Hand und blätterte in dem Buche, ohne gerade mehr als einen flüchtigen Blick für die anmuthige Lieder zu haben, die sie sonst so gern las. Dann hob sie rasch den Kopf und wandte ihn horchend nach der Thür, und richtig, da kam der wohlbekannte Tritt der Muhme über den Saal entlang, und gleich darauf blickte das gute Gesicht unter der schneeweißen Haube zur Thür herein.
„Nun sag nur um Gotteswillen Liesel, wo steckst Du denn?“ fragte sie mühsam Athem holend, „hast den ganzen Tag ein Gesicht gemacht, wie der pure Essig, und jetzt sitzst Du hier und liest, anstatt der alten Muhme da unten ein Bissel zu helfen. Du weißt doch, es ist heut Donnerstag, wo Pastors kommen; die Dörte ist rein verbost wegen der Schelte, die sie gekriegt hat, und die Mine muckscht zur Gesellschaft mit; hättest wohl mal helfen können die Tauben zurechtmachen, oder die Spargel schälen – das ist gar nicht leicht, und Du brauchst’s für den künftigen Hausstand, denn wo die Frau wirthschaftet, da wächst der Speck am Balken. Aber es ist doch eine Freude, wie Du es hübsch hier hast,“ unterbrach sie sich, indem sie den anmuthigen Raum musterte, der mit seinen weiß lackirten, von blau und weiß gestreiftem Kattun überzogenen Möbeln und den duftigen Fenstervorhängen sich so recht wie ein Mädchenstübchen ausnahm. „Und schau, wie das Myrthenstöckchen jetzt treibt! Ja, dabei fällt mir auch ein, was ich hier oben wollte. Da hat Dir die Nelly was Geschriebenes geschickt; der Heinrich brachte es mit.“ Sie nahm
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 706. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_706.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2016)