Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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„Reichthum Oben, Unten Elend“, diese Deutung der Anfangsbuchstaben der „Rechte-Oder-Ufer-Eisenbahn“, welche vor kurzem eine schlesische Zeitung brachte, kam mir unwillkürlich in den Sinn, als ich das „R. O. U. E.“ auf den Waggons des Zuges erblickte, der mich nach Oberschlesien führen sollte. Reichthum oben, unten Elend – wahrlich, für keinen Theil unseres großen Vaterlandes sind wohl diese Worte zutreffender, als für Oberschlesien, wo neben einem nicht selten in wenig ansprechender Weise sich breit machenden Luxus die stille Verzweiflung bitterster Armuth thatsächlich um das nackte Leben ringt. –
Das Gespräch im Coupé lenkte sich selbstverständlich auf den Nothstand in den Bezirken, denen uns das Dampfroß entgegenführte. Die noch vor wenigen Tagen von sehr Vielen vertheidigte Meinung, daß die Nothstandsnachrichten, wenn nicht völlig aus der Luft gegriffen, so doch wenigstens bedeutend übertrieben seien – diese Meinung war vollständig verschwunden, seitdem die Nachricht von dem Ausbruch des Hungertyphus in verschiedenen Ortschaften Oberschlesiens den traurigen Beweis für das wirkliche Vorhandensein von Hunger und Noth gebracht hatte. Alle möglichen und unmöglichen Vorschläge, in welcher Weise die Staatsregierung unverzüglich helfend eingreifen, wie sie nicht nur Geld und Lebensmittel, sondern auch Montirungsstücke aus den Militärdepots hergeben müsse, um dem Mangel an Kleidungsstücken abzuhelfen – wie eine allgemeine Nothstandssteuer für die ganze Monarchie ausgeschrieben und zur Behebung des Nothstandes in Oberschlesien verwendet – wie sofort zwangsweise ein Abzug von Menschen aus den übervölkerten Gegenden Oberschlesiens nach den minder bevölkerten des Staates angeordnet werden müsse – diese und ähnliche Vorschläge, wie sie auch in einzelnen Zeitungen erhoben werden, schwirrten in buntem Gewirre durch das Coupé und lieferten den Beweis, daß an Stelle des früheren Unglaubens ein rathloser Schrecken die Gemüther ergriffen habe. Die Sorge um das eigene Leben mochte wohl bei Manchen der Grund zu der plötzlich überströmenden Theilnahme für Oberschlesien sein, der Hungertyphus ist bekanntlich nicht leicht zu nehmen, er greift aus dem Bereiche der Hungernden, namentlich bei Eintritt wärmerer Witterung, gern auch in die Kreise der Satten hinüber. Vorläufig wehte freilich der Wind noch so eisig kalt, als ob wir in unmittelbarer Nähe des Nordpols uns befänden – 26° R. gehen auch für uns Norddeutsche etwas über die Hutschnur.
„Station Beuthen!“
Ich kletterte aus meinem Coupé und fuhr in einem Schlitten zunächst in die mir wohlbekannte Metropole des oberschlesischen Gruben- und Hüttenbezirkes hinein. Ich habe vielfach von Personen, welche Oberschlesien nicht kennen, die Ansicht äußern hören, das Land sei ganz ohne Comfort, biete nur unwegsame Straßen und niedrige Lehmhütten, in denen der Herdqualm und der Knoblauchsduft mit einander um die Herrschaft ringen und in denen ein roher Menschenschlag haust.
Dies trifft im vollen Umfange nirgend in Oberschlesien, am allerwenigsten aber im Hüttenrevier zu. Die Straßen sind hier fast durchweg gut, für gute und geräumige Arbeiterwohnungen ist neuerdings viel gethan worden, und wenn Verbrechen gegen Leben und Eigenthum hier häufiger vorkommen, als in anderen Gegenden, so wolle man in Betracht ziehen, daß in dem früheren Kreise Beuthen, der vor einigen Jahren in die vier Kreise Beuthen, Kattowitz, Tarnowitz und Zabrze getheilt wurde, auf einem Flächenraum von vierzehn Quadratmeilen eine Viertel-Million Menschen zusammengedrängt ist.
Die Stadt Beuthen – in früheren Jahren wurde sie gern „Klein-Breslau“ genannt – ist ein circa 20,000 Einwohner zählender, lebhafter und hübsch, theilweise sogar elegant gebauter Ort. Der Theil in der Nähe des Landgerichts kann sich dreist den besseren Stadtvierteln unserer Großstädte an die Seite stellen. Der Verkehr liegt jetzt freilich, wie überall, so auch in Beuthen darnieder; trotzdem ist ein eigentlicher Nothstand weder hier, noch, wie mir versichert wurde, im Hüttendistrict überhaupt vorhanden und auch, nach allen Erkundigungen, die ich eingezogen, nicht zu befürchten. Die Gruben- und Hüttenarbeiter haben hinlängliche Beschäftigung; den Landleuten bietet sich größtentheils Gelegenheit, sich während des Winters durch Anfahren der Galmei-Erde etc. nach den Hüttenwerken lohnenden Verdienst zu schaffen.
Auf den meisten Gruben- und Hüttenwerken ist neuerdings an Stelle der früheren cameradschaftlichen Löhnungen die Einzellöhnung der Arbeiter getreten, und dieselbe soll sich durchaus zum Vortheil der Arbeiter bewährt haben. Durch die Einzellöhnung erhalten die Arbeiter ihren Lohn alle vier Wochen auf einmal ausgezahlt und begeben sich hiermit zumeist direct nach ihren Wohnungen oder in das Geschäft, aus welchem sie ihre täglichen Bedürfnisse zu entnehmen pflegen. Früher dagegen, wo ein Lohnzettel mit der Gesammtlöhnung einem der Arbeiter zur weiteren Vertheilung übergeben wurde, war man gezwungen, die Theilung des Lohnes unter die Mitglieder der Knappschaft im Wirthshause vorzunehmen, wodurch selbstverständlich willkommene Gelegenheit zu cameradschaftlichen Trinkgelagen geboten und nicht selten ein großer Theil des sauer verdienten Arbeitslohnes am Löhnungstage schon verpraßt wurde. Auch wußte früher, wo es nur einen Gesammtlohnzettel gab, der einzelne Arbeiter, wenn er nach Hause kam, oft selbst nicht, was er erhalten hatte, oder wollte es aus naheliegenden Gründen der Frau daheim nicht mittheilen. Anders jetzt, wo jede Arbeiterfrau aus dem Lohnzettel des Mannes ersehen kann, was er verdient und was er etwa verjubelt hat.
Was die Arbeitslöhne der einzelnen Arbeiterclassen anlangt, so bestehen da Unterschiede, jedoch nur unwesentliche bei den einzelnen Gruben. Die Löhne betragen bei achtstündiger Arbeitszeit für Häuer etwa 1 Mark 50 Pfennig, Schlepper 1 Mark 25 Pfennig, Zieher 80 Pfennig, Klauber 50 Pfennig (!) für den Tag; die beiden zuletzt genannten Arbeiten werden, nebenbei bemerkt, zumeist von Frauen verrichtet.
Für Kranke, so weit sie Mitglieder des Knappschaftsvereins sind, sorgt der „Oberschlesische Knappschaftsverein“, welcher großartige Krankenanstalten in Königshütte, Zabrze, Myslowitz und anderen Orten unterhält, in umfassender Weise. Für andere Kranke ist das große Krankenhaus der barmherzigen Brüder in Bogutschütz neben zahlreichen Communalkrankenhäusern in verschiedenen Ortschaften bestimmt, unter denen namentlich das neue Krankenhaus in Beuthen Erwähnung verdient, das, außer sechs Badezimmern, Arztzimmer, Operationszimmer, Inspectorwohnung etc., siebzehn Belegräume mit hundertundacht Betten und ein Barackenlazareth mit vierunddreißig Betten enthält.
Der Armenpflege im Industriebezirk sind zahlreiche Vereine gewidmet, in der Stadt Beuthen allein acht, darunter sechs jüdische, obschon die Bevölkerung nur zum zehnten Theil aus Juden besteht. Diese acht Vereine wendeten im Jahre 1877 nahezu 20,000 Mark für Armenpflege auf, wovon über 15,500 Mark auf die jüdischen entfallen. Die Stadt Beuthen leistete 1877 zur Armenpflege einen Zuschuß von 15,884 Mark.
Die Verhältnisse Beuthens treffen mehr oder minder für den ganzen Hüttendistrict zu; sie mögen in einzelnen wie Pilze aus der Erde geschossenen Ortschaften, z. B. in Königshütte, Kattowitz, Zabrze etc., etwas ungünstiger liegen; ein Nothstand aber ist – ich wiederhole es – im Gruben- und Hüttenbezirke, trotz großer Armuth und kargen Verdienstes der arbeitenden Classe tatsächlich nicht vorhanden und auch nicht zu befürchten, wo neben dem Proletariat immerhin eine bedeutende Anzahl von vermögenden, zum Theil sogar reichen Personen existirt, somit die Einwohnerschaft vollständig in der Lage ist, die zu Tage tretende Noth aus eigenen Mitteln zu unterdrücken. Auch beweisen die
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_029.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)