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Seite:Die Gartenlaube (1880) 030.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


in allen nennenswerthen Ortschaften vorhandenen Suppenanstalten, Lebensmitteldepots etc., daß hier mit anerkennenswerther Umsicht rechtzeitig Vorkehrungen getroffen wurden, um einem solchen Nothstande vorzubeugen.

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Anders freilich sieht es, wie ich mich überzeugt habe, trotz der ministeriellen Versicherung des Gegentheils – in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 9. December – wenigstens in einem Theil des Kreises Lublinitz aus. Ein mit zwei kleinen, aber außerordentlich schnellen Pferden bespannter Schlitten führte mich, nachdem ich mich zwei Tage im Hüttenrevier umgesehen, bei eisiger Kälte über Schorley und Neudeck, den Sitz des Grafen Henckel, nach Tarnowitz und von da nach kurzer Rast über Georgenberg nach Woischnik. Woischnik ist ein Städtchen, vielmehr Marktflecken im Kreise Lublinitz.

Die Anzeichen der dauernden Armuth, nicht nur eines vorübergehenden Nothstandes, mehren sich, je weiter wir uns von dem Hüttendistricte entfernen. Die am Wege stehenden Hütten sind von der erbärmlichsten Beschaffenheit; kleine niedrige Lehmbuden mit winzigen Fensteröffnungen, deren erblindete und zerbrochene Scheiben mit Papierstreifen überklebt sind, um dem gegen die Hütten peitschenden Schneesturm bei mehr als zwanzig Grad Kälte Trotz zu bieten. Ich bin in mehrere dieser Hütten eingetreten – anfangs auch in der Hoffnung, meine bei der grimmigen Kälte fast vollständig erstarrten Glieder einigermaßen wieder erwärmen zu können – später lediglich, um mich auf's Neue wieder zu überzeugen, daß das Schreckliche, was mir vor der Seele schwebte, kein Phantasiebild, daß es entsetzliche Wirklichkeit sei. Die Innenseite der Thür, die Wände des ungeheizten Zimmers starren von Eis und Schnee; in Lumpen gehüllt, vor Kälte und Hunger wimmernd, liegen in einer Ecke des unwirthlichen und unheimlichen Zimmers die Kinder auf feuchtem Waldmoos oder mit welkem, feuchtem Laub vermengter Waldstreu, und in der Mitte des Zimmers kauern mit hohlen Wangen und hohlen Augen, in der allernothdürftigsten Kleidung, die Eltern, mit vor Frost steifen Händen bemüht, irgend eine mechanische Arbeit zu verrichten, um, wenn möglich, noch eine Zeit lang das abzuwehren, was ihnen zweifellos droht, wenn nicht schleunige Hülfe naht: den Hungertod. Krankheiten und deren epidemische Verbreitung dürften hier unvermeidlich sein, wenn nicht bald von außerhalb dem Nothstande ein Damm entgegengesetzt wird. Die Leute leben wie das liebe Vieh, ja, was Nahrungsmittel anbelangt, häufig schlechter, als es dieses gewohnt ist. Der Hauptmangel aber besteht in Kleidungsstücken, namentlich beziehentlich des Schuhwerks. Hatte ich doch schon bei der vollständig abnormen Kälte in der ersten Hälfte des Monats December viele Personen, namentlich Weiber und Kinder, barfuß laufen sehen, das heißt in der That laufen, denn das Gehen müßte ihnen wohl nahezu so unmöglich gewesen sein, wie dasjenige über eine heiße Platte. Durch die geplanten Chaussee- und Eisenbahnbauten wird ja Arbeit und damit auch Brod für die arme Bevölkerung geschafft werden, aber zuerst muß für Kleidung gesorgt werden; schon jetzt könnten Viele auf den Besitzungen des Grafen Henckel in Russisch-Polen Arbeit finden, wenn nicht die Kleidung mangelte und nebenbei – das Geld zur Beschaffung eines Passes. (!) Die Kinder können die Schule nicht besuchen, denn sie haben keine Kleider; abgesehen vom Lernen, wäre ihnen wenigstens Gelegenheit geboten, täglich einige Stunden hindurch in der Schulstube die halb erstarrten Glieder erwärmen zu können.

In Woischnik und im ganzen östlichen und südlichen Theile des Kreises Lublinitz herrscht der bitterste Nothstand, zu dem sich vielfach, auch in den nicht direct davon ergriffenen Kreisen, eine gewisse Mißstimmung über die Art und Weise gesellte, wie in der genannten Gegend der thatsächlich vorhandene Nothstand bisher behandelt wurde. In erster Linie wurde eine vor Kurzem erschienene landräthliche Bekanntmachung vielfach einer herben Kritik unterzogen. Diese Bekanntmachung sprach sich mißbilligend über Zeitungsberichte aus, welche von einem „angeblichen“ Nothstande im Lublinitzer Kreise redeten, wie er nach Ansicht der Kreisbehörde nicht, wenigstens nicht in dem Maße, wie er geschildert werde, vorhanden sei. Derartige übertriebene Schilderungen seien nur geeignet, den Kreis zu discreditiren etc. Nebenher wurde über einzelne Großgrundbesitzer – nicht etwa über alle – bitter geklagt.

Was ich unterwegs in Bezug auf die Nahrung selbst gesehen, wurde mir in Woischnik vielfach bestätigt: das arme Volk nährt sich von Abfällen, die geradezu gesundheitsschädlich sein müssen. Wie es dabei mit der ärztlichen Gesundheitspflege in dieser Gegend bestellt ist, geht aus einem Urtheil des Dr. Bauer in Nr. 572 der „Schlesischen Zeitung“ hervor. Es heißt dort:

„Die Gesundheitspflege ist im Allgemeinen auf dem Lande eine erbärmliche. Ich sehe ganz davon ab, was man in dieser Beziehung für Ansprüche an Kleidung, Wohnung und Nahrung stellt, um Krankheiten zu verhüten; ich beschränke mich in meinem Urtheil nur auf die Fälle, wo Krankheiten bereits ausgebrochen sind und die Krankenpflege stattzufinden hat. Der Arzt tritt an das Bett des Kranken oft erst nach wochenlangem Krankenlager, oft, wenn es schon zu spät ist. Wir sind nicht immer im Stande, wennschon wir unsere Kunst kostenfrei zur Verfügung stellen, auch noch die Mittel für Arzenei und sonstige Bedürfnisse dem Kranken zu verschaffen, und doch wäre dies in den meisten Fällen nöthig.

Wo die Kosten nicht so bedeutend sind, wie es bei Krankenbesuchen über Land der Fall ist, springen wir wohl oft helfend der armen Bevölkerung bei, aber es sollte unter gewissen Umständen Princip bei uns sein, dies nicht zu thun – wenn es nur mit der Menschlichkeit zu vereinbaren wäre! Mir ist z. B. auf den Vorwurf, den ich vielen Dominialbesitzern gemacht habe, daß sie ihre Arbeiter ohne Arzt und Apotheke wochenlang darniederliegen lassen, die Antwort geworden: Sind wir denn verpflichtet, für unsere Arbeiter Doctor und Apotheke zu halten? – Ja, bin ich als Arzt denn verpflichtet, die Arbeiter der Besitzer kostenfrei zu behandeln, bin ich denn verpflichtet, auch noch die Arzneikosten zu bezahlen? Sind denn die Arbeiter bei einem Durchschnittslohn von fünfzig Pfennig pro Tag im Stande, die Kosten einer langwierigen Krankheit zu bestreiten? Wenn das nicht der Fall, dann hat doch wohl Derjenige die moralische Verpflichtung, zu helfen, der aus dem billigen Arbeitslohne den Vortheil zieht.

Die Gruben- und Hüttenarbeiter müssen ihren Knappschaftsarzt haben, die Arbeiter in den größeren Städten müssen sich in die Knappschaftscassen einkaufen; der Landarbeiter aber ist schlechter daran, als das Vieh. Der Kreisthierarzt macht mehr Dienstreisen in einem Jahre, als der Kreisphysicus, und mehr als ich in zehn Jahren. Kann dies besser illustrirt werden, als durch die Verfügung, die den Kreistierarzt, wenn in Rußland in der Nähe der Grenze Sterbefälle von Menschen während einer Epidemie erfolgen, anweist, sich zu instruiren, wie tief die Leichen unter der Erde bestattet und welche Desinfectionsmittel angewendet werden?

Bei Typhus und anderen Epidemien sind die Ortsbehörden verpflichtet, den Arzt herbeizurufen. Der Arzt kommt, er constatirt: ‚Das ist der Typhus‘; er verschreibt und ordnet an – aber wo bleibt die Ausführung? Denken Sie sich, was Gott verhüten wolle, wir würden von einer Epidemie hier überfallen! Die Menschen würden sterben wie die Fliegen im Herbstwetter. Die reisenden Bettler sind in dieser Beziehung viel besser gestellt, als die Kreis-Ansässigen. Wir haben von reisenden Handwerkern fast alle Jahre unsere Stammkunden im hiesigen Krankenhause, die oft aus sechs bis acht Wochen gute und liebevolle Pflege hier finden. Man hat so absprechend aber die Gesundheitspflege in russischen Districten geschrieben; man würde erschrecken über unsere Gesundheitspflege bei einer ausbrechenden Epidemie …“ So Dr. Bauer, ein angesehener Arzt dieser Gegend.

Der Nothstand im Lublinitzer Kreise ist eben ein alter; er ist ein dauernder und tritt jetzt nur etwas schärfer zu Tage, als gewöhnlich; Sache der Regierung wird es sein, diesem dauernden Nothstande durch geeignete Maßnahmen abzuhelfen. Man cultivire hier die auf einer sehr niedrigen Stufe stehende Landwirthschaft und die auf einer noch niedrigeren Stufe stehenden Menschen, in denen mit der Zeit durch geeignete Mittel der Erziehung und Einwirkung das ihnen mangelnde Selbst- und Ehrgefühl, namentlich die Willenskraft geweckt werden sollte. Es würde sie alsdann auch der Gutsherr mehr wie bisher als Menschen respectiren und behandeln müssen. Wenn für jetzt die Dinge unbeschreiblich traurig liegen, so bin ich für meinen Theil überzeugt, daß von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_030.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)
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