Verschiedene: Die Gartenlaube (1884) | |
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Eine mächtige braune Flügelthür führte in dieselbe. Die Wände waren mit dunkel gebeizten schlichten Eichenholzregalen bekleidet. Die Bücher, an denen eine gelehrte Familie seit zwei Jahrhunderten gesammelt hatte, reihten sich auf ihnen an einander, vom alten in vergilbtes Schweinsleder gebundenen Folianten an bis zu der Broschüre, die gestern die Druckerei verlassen hatte. Leichte transportable Treppen standen in den Ecken, um den Weg in die oberen Regionen zu vermitteln. Auf den Bücherborten leuchteten in Marmor, Gyps und Erz die Bilder von den äußern Hüllen der Denker, deren Geist die Bände unter ihnen erfüllte. Dazwischen erhob sich hier und da die schlanke Säule einer antiken Lampe, auf geflügelten Klauen ruhend, ein mit Edelrost überzogener Räucheraltar. Die mächtige Tafel in der Mitte bedeckte ein Gobelinteppich, und den Sessel davor krönte die Eule, die Gefährtin des einsamen Forschers in nächtlicher Stunde.
Ereme legte das kleine Eisenrad in eine antike Schale von gelblichem Marmor, die mit Curiositäten gefüllt war. Dann öffnete sie den reichgeschnitzten Schrank, der die Kupferwerke enthielt.
Obenauf lag die Abbildung des Giebelfeldes vom Parthenon, welches die Geburt der Athene darstellte. Die Mittelgruppe war bereits zertrümmert, als das Kunstwerk abgezeichnet wurde; aber in der einen Ecke tauchte wohlerhalten das Gespann des Sonnengottes aus den Fluthen empor, kaum gebändigt von Helios’ starker Hand, und strebte der Göttin des reinen Gedankens zu.
Und die steinernen Wellen kräuselten sich vor Ereme’s in Träumerei versinkenden Augen, Lichtfunken huschten darüber hin, und ein schlanker Reiter theilte unentwegt die Wogen und schaute mit übermüthigem Lächeln über sie hinweg.
Sie fuhr auf. Wieder war sie bei dem Punkte, wo sie seit gestern stets ankam, mochten ihre Gedanken einen Weg einschlagen, welchen sie wollten.
Sie hatte sich unzählige Mal schon gesagt, daß das Reiterstück des Ulanen für sie gar keine Bedeutung zu haben brauchte; sie war sich bewußt, daß sie kalt und stolz die empörende Dreistigkeit abgewiesen hatte, und damit konnte sie das kleine Abentener in den Lethe versenken. Aber wenn sie eben damit fertig zu sein glaubte, sah sie ihn wieder vor sich, sah sie immer wieder die schöne Bewegung, mit der er die Zügel hob, als das Wasser dem Pferd an den Hals stieg. Wie er sich dreist in ihren Weg gedrängt hatte, so drängte er sich in ihre Gedanken und war nicht daraus zu vertreiben.
Von solchen Betrachtungen unterbrochen, rückte die Arbeit langsam vor. Der lange Sommertag begann sich zu neigen, ehe jede Merkwürdigkeit an den ihr gebührenden Ort kam. Dann aber litt es sie nicht länger in dem eingeschlossenen Raume. Sie kleidete sich zu einem Spaziergang um.
Die Tante konnte sie nicht geleiten. Aus der Küche erscholl Hammerschlag, und ein Dampf von flüssigem Metall entquoll ihr, als schmiede Hephästos Waffen; es war indeß nur ein Klempner, der die Einmachebüchsen zunietete.
„Aber Tantchen, wer soll denn das Alles essen?“ fragte Ereme, die langen Reihen überblickend.
„Vorsehen ist besser denn Nachsehen,“ lautete die Antwort.
„Eine ganze Schwadron könnte davon satt werden,“ kicherte Dorchen.
Die Tante warf ihr einen strafenden Blick zu, und Ereme wandte sich mißbilligend ab.
Sie athmete auf, als das Gewühl der Stadt hinter ihr lag und der Wald seine hohen Hallen über ihr wölbte. Langsam wandelte sie bergauf.
Die Sonne vergoldete sinkend die Wipfel der alten Eichen; aber hier im Schatten der mächtigen Bäume spielten ihre Strahlen nur als matte Lichter. Wie riesige Schilde hielten die Laubkronen die leuchtenden Pfeile von den saftigen Gräsern, den blauen Blüthentrauben des Ehrenpreises und den weißen zarten Waldlilien ab, die zwischen den starken Wurzeln aufgesproßt waren. Zaunkönige, Rothkehlchen und Finken sangen mit hallenden Stimmen ihr Abendlied, und fernher tönte der Ruf des Pirol.
Mit gerötheten Wangen kam sie auf dem freien Platz an, auf dem sich das Kriegerdenkmal erhob. Noch umsäumte die Sonne mit goldenen Linien den schwarzen Adler auf der hohen Säule. Um den Sockel waren Trophäen errichtet von erbeuteten Kanonenrohren; aufwuchernder Epheu schlang sich darüber hin. Aus einem ehernen Mund, der vor nicht langer Zeit Tod und Verderben gespieen hatte, flog ein Meisenpärchen ein und aus, das ihn unschuldsvoll für ein Astloch ansah. Und ein leuchtender Tagfalter gaukelte um die Tafeln, welche die Seitenwände der Säule schmückten und die Namen der gefallenen Söhne des Stückes deutscher Erde trugen, auf die der Riesenadler herabschaute.
Erschöpft ließ Ereme sich auf einer der Ruhebänke nieder, die neben dem Denkmal aufgestellt waren. Ihr Blick glitt über das Meer von Wipfeln hinweg, das von der Kuppe des Berges überragt wurde, hinaus in das hügelige Land. In bläulichem Duft verdämmerte es in der Ferne. So nebelig verschwammen die Umrisse der Berge in Griechenland nicht. Klar, wie die röthlich angestrahlte Wolke ihr gegenüber vom Himmel sich abhob, stiegen die röthlichen Felsen, die auf ihres Vaters Grab herabschauten, aus der blauen Meerfluth. Und hatten die alten Hellenen nicht Recht, wenn sie sagten, daß die reine Atmosphäre die Sinne schärfe, den Geist erhelle, die Seele heiter stimme? Dort war der freie Flug ihrer Gedanken durch nichts gehemmt gewesen, hier schienen die Nebelschleier, welche die Thäler füllten und um die Höhen webten, auch ihre Seele zu umhüllen, daß sie sich selbst nicht mehr ganz verstand.
Da tönte in Blätterflüstern und Vogelsang ein dumpfer Hall. Ein Häher, der Wächter des Waldes, kreischte. Gespannt richtete sie sich auf und lauschte.
Jetzt hörte sie ein Pferd schnauben. Ihr Athem stockte; sie wußte, welcher Reiter im nächsten Augenblick um den Bergvorsprung biegen werde, der den heranführenden Weg verbarg.
Da hielt er schon unter der letzten Eiche.
Sie erhob sich, und auch Bartenstein fuhr überrascht empor, als er sie hochaufgerichtet neben der Siegessäule stehen sah. Aber während sie wie gebannt regungslos verharrte, schwang er sich schon leicht aus dem Sattel.
Gewaltsam faßte sie sich und stieg langsam, ohne ihn anzusehen hernieder.
Da, als sie an ihm vorüberschreiten wollte, wandte er sich schnell, ergriff einen über den Weg sich streckenden Eichenast und bog ihn kräftig herab, sodaß ihre Schritte von dem grünen, herb duftenden Zweige gehemmt wurden.
„Warum wollen Sie fliehen, gnädiges Fräulein?“ fragte er mit ehrerbietiger Verneigung.
Sie war so überrascht von seiner Kühnheit, daß sie, statt stumm auszubiegen und weiter zu gehen, erwiderte: „Ich suchte die Einsamkeit.“
„Und auch dahin folgt Ihnen der Ulan, den Sie mit Ihrem Zorne beehrt haben,“ sagte er in halb bedauerndem, halb scherzendem Tone.
Er sprach ihr aus der Seele. Aber sie antwortete kühl: „Zorn? Gegen den Fremdling?“
„Fremdling?“ wiederholte er das ungebräuchliche Wort, das ihm wie einem alten Trauerspiele entnommen erschien, und einen Augenblick spielte ein leichtes Lächeln um seine Lippen. „Fremdling? Den Sie doch geschnitten haben,“ setzte er hinzu.
„Geschnitten?“ wiederholte nun sie, als glaubte sie nicht recht gehört zu haben, da sie den Ausdruck in dieser Bedeutung nicht kannte.
„Gewiß,“ bestätigte er. „Wenn auch nur durch einen Blick. O, ein Blick kann sehr viel sagen. Er kann verletzen und auch einen magnetischen Rapport herstellen. Manchmal auch beides zugleich.“
Sie schaute ihn stolz zurückweisend an.
„Da ist er wieder, der kalte Strahl,“ fuhr er fort. „Bewundern Sie, daß ich ihm Stand halte.“
Ereme wandte empört die Augen ab. „Es bedarf keines großen Muthes der Schutzverwaisten gegenüber,“ entgegnete sie mit bebender Stimme.
Er ließ den Zweig emporschnellen. „Nein, der Stich ging zu tief für eine harmlose Plänkelei. Aber ich bin schuld, ich habe angefangen. Und ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Gestatten Sie, daß ich das Versäumte nachhole: Rittmeister von Bartenstein.“
Sie sah ihn mißtrauisch an. Kein Zug seines Gesichtes zeigte mehr den Ausdruck von Uebermuth. Er stand vor ihr in der achtungsvollen eleganten Haltung, wie der Herr im Salon vor der Dame steht, und sie konnte nicht anders als seine Vorstellung mit einem leichten Neigen des Hauptes erwidern.
„Und nun bitte ich wegen der Störung um Gnade,“ fuhr er rasch, aber in unbefangenem Tone fort.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_638.jpg&oldid=- (Version vom 1.12.2022)