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Seite:Die Gartenlaube (1884) 640.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


einen klösterlichen Anstrich, der aber durch Melanie’s Geschmacksrichtung wie verklärt erschien.

Die blauen seidenen Vorhänge warfen ein mildes Licht; vor den Fenstern wiegten sich in Muschelampeln Passionsblumen und ließen ihre graziösen Ranken mit den sammetartigen Sternenblüthen herabsinken; trauliche Gruppen von Causeusen und Fauteuils waren in den Ecken zusammengestellt; Tische und Consolen schmückten Vasen von altem Meißner Porcellan, deren fächerförmig gestaltete Kelche weiße Lilien füllten, die durch ihren Duft an dämmerige Kreuzgänge, an stillen Verzicht gemahnten.

In gutem Licht standen auf schlanken Gueridons zierliche Staffeleien mit Kupferstichen von Melanie’s Lieblingsbildern. Es waren Raphael’s Poesie, welche die Schwingen entfaltet, die Lyra an’s Herz drückt und von geflügelten Genien begleitet wird, und die Philosophie desselben Meisters, ein ernstes Weib, das auf einem sphinxgeschmückten Sessel sitzt, der, unbequem und hart wie jeder Thron, die Wolken niederdrückt, auf denen er ruht. Wie Lastträger mit geduckten Köpfchen tragen kleine Boten die Weisheit in die Welt hinaus.

Während Melanie am Frühstückstisch ihre Chocolade löffelte, dachte sie bewundernd, wie treffend der große Maler diese Gestalten charakterisirt hatte, die beide die ewige Wahrheit suchen, die eine im beflügelten Aufschwung, die andere im Grübeln und Sinnen. Sie hegte an der Zweckmäßigkeit dieses letzteren Weges, seit der Doctor Gerhard sie in sein Streben einweihte, bescheidene Zweifel.

Da weckte sie Darling aus ihren Gedanken, indem er sein Vorderpfötchen auf den gesteppten seidenen Aermelaufschlag ihres Peignoirs legte. Auch der Liebling befand sich noch im Negligé; sein seidenweiches Haar war in viele dünne Zöpfchen geflochten, selbst über seine braunen Augen, mit denen er sie auffordernd ansah, hingen solche herab. Sie verstand den Blick, band ihm die Serviette um und setzte ihm seine Morgenmilch in einer Krystallschale auf dem Fußbänkchen vor. Dann wurde Darling von der Zofe zum Frisiren entführt, und der alltägliche Kampf zwischen beiden entspann sich; denn Darling fürchtete, wie andere verzogene Lieblinge auch, Schwamm und Kamm.

Melanie streckte sich behaglich auf ihrer Chaiselongue aus. Sie nahm ein Buch, das ihr von der Zofe mit der Chocolade überbracht worden war, aus seiner Umhüllung.

Auf die erste Seite hatte Doctor Gerhard, der Autor, mit seiner gleichmäßigen saubern Handschrift – eine solche gehört jetzt auch bei den jungen Gelehrten zur guten Erziehung – eine Widmung für sie geschrieben, in welcher er sie seiner unwandelbaren Verehrung und Freundschaft versicherte. Darunter stand der Titel: „Die Wahrheit über das Wesen der Liebe.“

Sie blätterte mit einem Ausdruck von nachsichtigem Spott in dem Büchlein. Mit dem Eifer des Archäologen hatte der Verfasser zusammengestellt, was die Philosophie aller Völker über das Wesen dieser bis jetzt unüberwindlichen Macht gefabelt und ergrübelt hatte, von Uranfang an bis auf die neueste Zeit. Und er war zu dem Resultat gekommen, daß der Mensch, der unerschrocken die Tiefen des eignen Ichs durchforscht, im Stande sei, die Gewalt des Unbewußten zu brechen, das in der Liebe sich geltend macht.

Sie ließ das Buch sinken.

(Fortsetzung folgt.)

Die „gute alte Zeit“.

Von Karl Biedermann.[1]

Wohl mag im Ganzen die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo der beschwingende Geist der Reformation noch lebendig, zugleich der Geist des deutschen Bürgerthums noch ungebrochen kräftig war, als eine Periode ehrbarer Sitte anzusehen sein. Dennoch aber – wer sollte es glauben? – fehlte es auch damals nicht an Klagen über angebliche Verschlechterung der Sitten ganz so, wie heutzutage! Und zwar ist der, welcher solche Klagen erhebt, kein Geringerer als der treffliche Kenner und Darsteller zeitgenössischer Zustände, Hans Sachs, er, der getreue Sohn des mit Recht von ihm und auch anderwärts hochgepriesenen Nürnberg!

Hans Sachs kleidet diesen Ausfall auf seine Zeit in ein scherzhaftes Gewand. Er sei, so erzählt er, dem Teufel begegnet, dieser habe ihm geklagt, daß die Hölle wegen der großen Menge von Bösen, die sie aufnehmen solle, zu eng werde und er eine neue bauen müsse.

Mit feiner Ironie stellt sich Hans Sachs darüber verwundert. Es sei doch, sagt er, gerade jezt in aller Hinsicht auf Erden so gut bestellt. Darauf entwirft er ein scheinbar äußerst glänzendes Bild aller Stände, von den obersten bis herab zu den untersten.

Nachdem er Papst, Kaiser, Fürsten, Adel, Geistlichkeit durchmustert, kommt er auch auf das bürgerliche Gemeinwesen, auf Handel und Verkehr, auf das Gewerbe, auf Haus und Familie, auf Sitte und Frömmigkeit zu sprechen und läßt sich darüber etwa folgendermaßen aus:

„Die bürgerliche Obrigkeit sieht nur auf den gemeinen Nutzen ohne allen Eigennutz. Es findet keine Münzverschlechterung statt. Kein falscher Eid wird geschworen. Unbeirrt durch Furcht, unbestochen durch Geschenke, sprechen die Gerichte nur nach Recht und Gesetz.

Nirgends giebt es Wucher, noch Betrug, nirgends gefälschte Kaufmannswaare, überall nur rechtes Maß und Gewicht. Jedermann hält Treu und Glauben. Kein Schuldner läßt seinen Bürgen im Stich. Kein Handwerker feindet den andern an, sucht ihm seine Kunden abspenstig zu machen oder seine Gesellen zu verhetzen; alle machen sie preiswürdige Waare. Auch giebt es nur friedfertige Ehen; nirgends ist Zank und Hader; alle Frauen sind ihren Männern unterthan, alle Kinder ihren Eltern gehorsam. Die ganze Jugend ist tugendreich und gottesfürchtig, die jungen Männer sind bescheiden und ehrbar. Von Hoffahrt, Luxus, Ueppigkeit keine Spur. Arm und Reich wetteifert in Gottesfurcht und Pflichttreue, dergestalt, daß sie alle sofort in den Himmel eingehen könnten.“

Kaum aber hat er diese Rede geendet, da fährt der Teufel ihn zornig an:

„Du verlogener Mann! Von Alledem, was Du da behauptest, ist kein Wort wahr. Und wo Du mir nicht alsbald zehn Zeugen bringst, daß Du nicht gelogen, mußt Du mit mir zur Hölle fahren.“

Hans Sachs, in großer Angst, sucht und sucht nach Zeugen, aber Niemand will Zeugniß für ihn leisten, denn Alle behaupten: „was er gesagt, sei nicht wahr.“

Es fällt uns nicht ein, aus dieser satirisch-humoristischen Erzählung des poetischen Schusters von Nürnberg etwa schließen zu wollen, er habe die Zustände seiner Vaterstadt wirklich

  1. Wir ergreifen mit Freude hier die Gelegenheit, noch einmal auf ein Werk unseres hochverehrten Mitarbeiters hinzuweisen, dessen Erfolg zwar ein bereits durch die Nothwendigkeit einer neuen Auflage bewährter, aber dem wahren Werthe desselben noch keineswegs voll entsprechender ist, denn Karl Biedermann’s Buch „1840 bis 1870. Dreißig Jahre deutscher Geschichte, vom Thronwechsel in Preußen 1840 bis zur Aufrichtung des neuen deutschen Kaiserthums, nebst einem Rückblick auf die Zeit von 1815 bis 1840“ ist das einzige Werk unserer Literatur, welches von dieser Zeit gewaltigster innerer und äußerer Kämpfe und großartigster Ereignisse uns „ein wirklich gutes, wahrheitsvolles und glänzend geschriebenes Geschichtsbild“ darbietet. Wenn irgend Etwas geeignet ist, in unseren von politischen Parteikämpfen erregten Tagen Klarheit in die Köpfe und Wärme in die Herzen für die höchsten Güter unserer Nation zu bringen, so ist es die genaue Kenntniß des Menschenalters, das der Gründung des neuen deutschen Reichs vorherging; und wenn irgend ein Mann durch inneren und äußeren Beruf dazu befähigt war, ein solches Buch zu schreiben, so war es eben der Verfasser, der diese Zeit mit durchlebt und mit durchkämpft hat, – „der einst selbst um seiner charaktervollen Vortrags- und Schreibweise willen auf Jahre hinaus seine Professur (an der Universität Leipzig) verlor und dann im deutschen Parlament eine hervorragende Rolle spielte.“ „Dreißig Jahre“ sind ein deutsches Volksbuch, das in keinem deutschen Hause fehlen sollte. Karl Biedermann’s wohlgetroffenes Bildniß haben die Leser der „Gartenlaube“ im Jahrg. 1873, S. 579 erhalten, wo die „Führer der liberalen Abgeordneten in der Zweiten sächsischen Kammer“ dargestellt worden sind. Die Red. 
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_640.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2022)
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