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Seite:Die Gartenlaube (1884) 692.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

und fremdartig berühren die eigenthümlich rollenden Accente, mit denen sie oft die dramatische Gewalt der Alexandriner zum Ausdrucke zu bringen suchen.

Gleichwohl ist Corneille’s Ansehen jenseit des Rheins unerschüttert geblieben; nicht die romantische Schule mit ihren sprachlichen und theatralischen Neuerungen, nicht das neue sociale Drama mit seinen feinen und kühnen Pointen vermochten ihn aus der Mode zu bringen; keiner dieser modernen Don Juan’s konnte den steinernen Comthur, der am Eingange der französischen Dramatik Wache hält, aus dem Sattel heben oder zu gespenstiger Nichtigkeit hinwegspotten.

Es ist wahr, der sichtbare Einfluß Corneille’s auf die deutsche Bühne gehört einer Zeit an, welche vor der Epoche unserer großen Dichter liegt, und diese selbst haben keins seiner Dramen unserer Bühne angeeignet. Schiller übersetzte Racine’s „Phädra“, Goethe Voltaire’s „Tancred“, und „Mahomet“, keiner von ihnen ein Drama von Corneille; doch Goethe spricht nicht nur in seinen Jugenderinnerungen von den Corneille-Aufführungen des damaligen französischen Theaters in Frankfurt; er brachte selbst in Weimar den „Cid“ zur Aufführung. Und Niemand wird leugnen können, daß der kühne Aufschwung der Schiller’schen Dichtung und die große Gesinnung, die in derselben herrscht, etwas Verwandtes hat mit dem machtvollen Pathos Corneille’s.

Pierre Corneille wurde am 6. Juni 1606 zu Rouen als Sohn eines Generaladvocaten geboren und schlug selbst die juristische Carrière ein; doch wurde er derselben bald untreu aus Liebe zu den Musen. Besonders zog ihn das Theater an; schon im Jahre 1625 hatte er sein erstes Lustspiel „Melite“ auf die Bühne gebracht. Eine Reihe von Lustspielen, von denen „La Place Royale“ (1635) den meisten Erfolg hatte, erwarb Corneille den Ruf eines gern gesehenen Dramatikers, der freilich dem Banner der heiteren Thalia, wenn auch in den Banden des französischen Regelzwanges, folgte. Das lenkte auf ihn die Aufmerksamkeit des großen Ministers, welcher den Ehrgeiz besaß, auch als Dramatiker gefeiert zu werden, und während er die Weltbühne mit Tragödien füllte, als Schöpfer von Lustspielen die Zeitgenossen erheitern wollte. Richelieu zog den Dichter in sein dramaturgisches Redactionsbureau, wo seine dramatischen Gedanken und Pläne von Handlangern und Meistern der Technik, die freilich das Meiste und das Beste thun mußten, ausgearbeitet wurden zu Ehren des Cardinal-Staatsmannes, der sich mit den bunten Federn seiner Mitarbeiter zu einem französischen Plautus und Terenz herauszuputzen suchte. Doch Corneille zeigte bei diesen Bearbeitungen einen zu selbstständigen Sinn; der mächtige Selbstherrscher wollte auch auf diesem Gebiete Alles unter seinen starken Willen beugen. Der Dichter zog sich die Ungnade Richelieu’s zu, er verließ Paris und begab sich nach Rouen. Hier wies ihn der frühere Secretair der Maria von Medici, Chalon, auf das spanische Drama hin, und unter Anlehnung an das Drama Guillem’s de Castro „Las mocedades del Cid“ schuf er sein Drama „Le Cid“, welches seinen Ruhm begründete (1636). Zwar die eben begründete Académie saß, auf Befehl Richelieu’s, welcher gegen den fahnenflüchtigen Mitarbeiter nachhaltigen Groll hegte, über die Tragikomödie „Der Cid“ nicht ohne Strenge zu Gericht: obschon Corneille den scenischen Apparat des spanischen Originals wesentlich vereinfacht und dramatisch lebendige Scenen hinter die Coulissen verlegt hatte, war, gegenüber dem französischen Regelzwang, doch noch zuviel freie spanische Romantik in dem Stücke bemerkbar; auch der versöhnliche Abschluß verstimmte die Kunstrichter der Akademie. Das Publicum aber nahm den „Cid“ mit Enthusiasmus auf. Seitdem wandte sich Corneille ganz der Tragödie zu, deren Bahn er schon 1635 mit einer Bearbeitung von Seneca’s „Medea“ betreten hatte; es folgten seine Meisterwerke; „Horaces“ (1639), „Cinna“ (1639), „Polyeucte“ (1640), „Mort de Pompée“ (1641), „Rodogune“ (1646). Einmal noch wandte er sich dem Lustspiele zu, indem er ein spanisches Drama unter dem Titel „Le Menteur“ (1642) für die französische Bühne bearbeitete und damit einen freieren Ton anschlug, als in der eng eingeschnürten französischen Comédie bis dahin vernommen worden war. Von seinen späteren Dramen, in denen zu sehr die regelrechte Schablone vorherrschte und die Eingebungen des dramatischen Genius immer seltener wurden, ist noch „Nicomède“ (1652), „Oedipe“ (1659) und „Sertorius“ (1662) zu erwähnen. Im Ganzen hat Corneille dreiunddreißig Stücke verfaßt: er war bei Weitem nicht so productiv, wie die althellenischen Tragiker oder die großen spanischen Dramatiker, deren Stücke nach Hunderten zählen, productiver aber als Schiller und Goethe, und dürfte hierin mit Shakespeare ungefähr in einer Linie stehen.

Pierre Corneille † am 1. October 1684

Die Akademie, die ihn so scharf beurtheilt, nahm ihn doch noch als ihr Mitglied in den Kreis der Unsterblichen auf (1647), denen sie dies Diplom auszustellen seit jener Zeit sich anmaßte.

Die Rolle, welche Corneille in der Geschichte der französischen Literatur spielt, ist diejenige eines Reformators der Bühne, welche bis in die neue Zeit hinein der von ihm aufgestellten dramatischen Form huldigte; aber er gehört auch der Weltliteratur an als einer jener Dichter, welche von der Bühne herab einen auf die geschichtliche Größe und Bedeutung gerichteten Sinn zu nähren und das Theater zu einer Pflanzstätte großer Gesinnung zu machen wußten; es bedarf solcher Geister, um einer hochstrebenden Zeit den bleibenden dichterischen Ausdruck zu geben. Das ist die Aehnlichkeit, welche Corneille mit Schiller und Shakespeare hat; beide hoben das Theater zu einer Höhe, wo es den die Zeit beherrschenden geschichtlichen Geist spiegelte und trug und eine Macht wurde neben den andern Mächten, welche den Ausschlag geben bei den großen Ereignissen des Tages.

Eine Epoche nationalen Aufschwungs, in welcher Dichtung und Bühne in engen Verhältnissen versumpfen und der Geschmack des Publicums sich dem genrehaft Alltäglichen und Unbedeutenden zuwendet, wird für den Nachruhm eines sehr wichtigen Trägers entbehren. Corneille war der Ausdruck der nationalen Thatkraft und Begeisterung. Darum nannten ihn auch die Franzosen le grand Corneille, und Napoleon, dessen Epoche keinen großen Dichter aufzuweisen hatte, erklärte, er würde Corneille zum Herzog gemacht haben, wenn er in seiner Zeit gelebt hätte. Heldenmuth und Seelengröße – das waren meistens die bewegenden Mächte seiner Dramen: er liebte es vorzugsweise jene Kämpfe darzustellen, in welche Helden gerathen, die dem allgemeinen Wohl das eigene, höheren Ideen die Neigung des Herzens, das Glück der Familie, ja auch die Pflichten gegen dieselbe opfern. In „Horaces“, der ersten Tragödie, welche Corneille ohne jedes Vorbild dichtete, herrscht ein schwunghafter Patriotismus: der Einzelne opfert sich und die Seinen dem Vaterland; gerade in diesem Drama ist echte Römergröße unverkennbar. Noch bedeutender ist „Polyeucte“; in diesem mit rühmenswerther dramatischer Kunst zusammengehaltenen Trauerspiele tritt das Märyrerthum für die christlichen Ideen, von ehelicher Liebe und häuslichem Glück sich lossagend, mit sieghafter Glorie in den Vordergrund.

Neben diesen Stücken, in denen der Heroismus und die Opferfreudigkeit den Ton angeben, finden sich andere, in denen die Selbstherrlichkeit und die Kunst der unumschränkten Herrschaft gefeiert wird: so „Cinna“, in welchem Stücke der Dichter die Monarchie verherrlicht gegenüber den Gewaltthätigkeiten der Republik, eine Monarchie, die zugleich gerecht und milde ist und so ihre Gegner entwaffnet, ein schmeichelhaftes Abbild des Königthums der Bourbons. Daß aber das ehrgeizige Streben nach unbedingter Herrschaft eines Weibes Seele ausfüllen und verwüsten kann, zeigte das von Lessing so grausam zergliederte Schreckensdrama „Rodogune“; Nicomède ist ein Held der Nationalfreiheit wie Hannibal, gegenüber der römischen Weltmacht, ebenso Sophonisbe.

Corneille’s Sprache hat hohen Schwung, auch fehlt ihr nicht das dramatische Schlagwort; aber obgleich die Tragödie das Recht hat, sich voll auszusprechen, mit jenem Pathos, das den großen griechischen Tragikern nicht weniger als Shakespeare und Schiller eigen ist und das nur die geistig Armen verdammen, welche die Schranke ihres Talentes zur Schranke der Kunst überhaupt machen: so hat Corneille das Vorrecht der höheren Dichtung doch in sofern mißbraucht, als er oft einer allzugeschwätzigen Sophistik der Leidenschaft, einem zergliedernden Raisonnement das Wort gönnt, das ihm mehr als alles Andere den Vorwurf des rednerischen Stelzenganges zugezogen hat. Er ist indeß keineswegs ein glatter Phrasendrechsler; er weiß große Naturen oft von dämonischer Leidenschaftlichkeit zu schildern und die Seele nicht blos mit dem Wohlklang seiner Verse, sondern auch mit Rührung, Schrecken und Grauen zu erfüllen. Er hat über die drei dramatischen Einheiten ein Buch geschrieben, ihr Schema aber nicht mit sclavischer Hingebung befolgt. Schon Voltaire tadelte die drei Handlungen in „Horaces“ und vermißte in „Cinna“ sogar die Einheit des Charakters und des Interesses. „Rodogune“ ist nichts weniger als eine Schablonendichtung nach dem kärglichen Maße, das die alten Einheiten gewähren; die Handlung ist weitausgreifend und reich gegliedert.

Der schlichte Mann, dessen Persönlichkeit wenig einnehmend, dessen Unterhaltung weitschweifig und unbequem war, hatte sich schon bei den Zeitgenossen großen Ruhm erworben; doch lastete Richelieu’s Gunst und Ungunst, die Staatsmacht, die er verherrlichte, auf seinem Leben. Auch an Niederlagen fehlte es ihm so wenig wie an Erfolgen. Sein Drama „Pertharide“ (1653) machte ein vollständiges Fiasco; verstimmt wie Grillparzer durch die ablehnende Aufnahme seines „Wehe dem, der lügt“, zog er sich wie dieser jahrelang von der Bühne zurück, und als er sie in neuem Anlaufe zu erobern suchte, anfangs nicht ohne Glück, fand er einen jüngeren Nebenbuhler, der ihm den Lorbeer streitig machte. Henriette von Orleans, später Königin von England, hatte Corneille und Racine veranlaßt, gleichzeitig den Stoff der „Bérénice“ zu behandeln: beide Stücke wurden rasch hinter einander aufgeführt, und in diesem Duell siegte Racine.

Spätere Kritiker, wie Voltaire und besonders Lessing, zerrten an Corneille’s Lorbeer, doch er bleibt ein unvergänglicher, solange nicht große Gesinnungen und Leidenschaften ganz von der Bühne verbannt werden.


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 692. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_692.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2024)
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