Verschiedene: Die Gartenlaube (1884) | |
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so groß unsere Erwartungen von Brügge waren, so hegte doch mancher den stillen Wunsch: „Ich wollte, es wär’ Schlafenszeit und Alles wär’ gut.“
Aber nein, noblesse oblige! Darum „stramm vorwärts“; und so rückten wir in leidlicher Ordnung in die reich decorirte Stadt ein, unter dem Wehen der Fahnen, unter welchen sich neben den lebhaften schwarz-gelb-rothen belgischen auch einige wenige bescheidene schwarz-weiß-rothe befanden. Diese Farben des Deutschen Reichs begrüßten uns namentlich vor den deutschen Bierhäusern, deren es hier mehrere giebt. Das belgische obergährige Bier, Pharo, wie Lambik, entspricht dem deutschen Geschmacke nicht. Das deutsche Bier aber hat seinen Eroberungszug um die Erde vollendet. Selbst der Türke trinkt Schwechater und Pilsener und behauptet, das verstoße nicht gegen den Islam (d. h. das Gesetz), denn es sei nicht Wein, sondern Gerstensaft oder Malzextract. Und als die Deutschen in New-York das Schillerfest begingen und „Wallenstein’s Lager“ aufführten, meinten die Yankees, bei den Deutschen gehe es nun einmal nicht ab ohne „Lager“, worunter sie Bier (Lagerbier) verstanden.
In der That war ganz Brügge auf den Beinen bei unserm Einmarsch, welcher sich von dem genannten gothischen Bahnhofe nach dem großen Marktplatz bewegte, einem schönen großen Platz, umgeben mit theils wohlerhaltenen, theils mit historischer Treue und Sorgfalt wiederhergestellten gothischen Giebelhäusern und abgeschlossen durch zwei lange Verkaufshallen, aus deren Mitte sich der mächtige und doch graziös emporsteigende Beffroy (Bergfried oder Donjon) erhebt, der bis zur oberen Balustrade achtzig Meter mißt und das Sinnbild des Reichthums und der Macht dieser Stadt bildet, welche vordem in dem Welthandel dieselbe Rolle spielte, wie gegenwärtig London. Der Anblick dieser Herrlichkeit, die in der halbhellen Nacht noch märchenhafter und zauberartiger emporsteigt, als am Tage, hob wieder unsere etwas erschöpften Kräfte; und als nun das Glockenspiel des Beffroy anhob, zuerst die deutsche „Wacht am Rhein“, dann das „Vlaanderen“-Lied und endlich die belgische Nationalmelodie, genannt „La Brabançonne“, zu spielen, da brach ein förmlicher Verbrüderungs-Enthusiasmus zwischen den Angehörigen der verschiedenen Völker aus, welche auf dem Marktplatze dieser monumentalen Stadt zusammengetroffen waren – die Einen, um den längst verwehten Spuren ihrer hanseatischen Vorfahren nachzugehen und die Stätten ihrer Wirksamkeit zu studiren – die Andern, um, wie dies ein hier in stattlichem Format und in vlamischer Sprache erscheinendes Blatt „Burgerwelzijn“ (Bürgerwohl) ausdrückt, zu zeigen, daß Brügge „een guthertig welkom wenscht aan de afstammelingen van dezen, die eens aan het hooft stonden der handelsbeweging van de ganze wereld“, das heißt, daß Brügge ein aufrichtiges Willkomm entgegenbringt den Nachkommen Derjenigen, die einst an der Spitze der Handelsbewegung der ganzen Welt gestanden haben.
Dann bewegte sich der mächtige Zug die Rue Saint Jacques, auf Vlamisch „Sinter-Jacobs-straat“ geheißen, nach dem vormaligen Boterhuis oder Beuterhuus, auch Caeshuus genannt. Vormals eine offene Laube, in welcher man Butter und Käse verkaufte, bildet es jetzt eine große Concerthalle, welche eine Unmasse Menschen faßt und sich durch ihre vortreffliche Akustik auszeichnet.
Während wir und unsere Brügger Freunde einmarschirten in den Concertsaal, sah sich die liebe Straßenjugend, die uns bisher ebenfalls das Geleit gegeben hatte, von dem Heiligthum ausgeschlossen. Sie rächte sich dafür dadurch, daß sie, und zwar mit viel Geschick und Naturwahrheit, das Hahnengeschrei nachahmte; und als ich, da ich ein wenig hatte zurückbleiben müssen, mir durch ein höfliches „Bon soir Messieurs!“ Eingang durch ihre geschlossenen Reihen zu schaffen versuchte, machte man mir zwar mit großer Bereitwilligkeit Platz, aber hinter mir ertönte ein vielstimmiges „Frenschman“, von noch weit zahlreicheren Hahnenschreien begleitet, worüber ich mich aufrichtig freute.
Oben, in dem bereits dicht mit Menschen angefüllten Concertsaal, fand ich sofort einen liebenswürdigen Bürger von Brügge, der mir als Führer diente und mir die Herren namhaft machte, welche an dem „Bureel“ (Bureau) Platz genommen hatten, um uns zu begrüßen. Es waren die Herren Van Ackeren, Sabbe und Vermast, die Delegirten des Comité Brügge-Nüremberg; Herr Sorel-Merlin, Vertreter des „Reizigerkring“; Dr. de Meyer, von dem „Kunstkring“; Herr de Thibaut de Boesinghe, Vorsitzender der „burgerlijke Godshuizen“, Herr Nelis von der „Emulatie“ und die Herren Steyart und Edwin Gaillard von der „Alterthumskundigen Maatschapij“, das ist dem Alterthums-Verein für Brügge und Umgegend. – Die große Anzahl der gemeinnützigen Vereine oder Kreise (Krings, das ist Cirkel, cercle) ist beachtenswerth. Sie liefert einen Beweis für den überall zu Tage tretenden lebhaften und spontanen Gemeinsinn, welcher in Allem, was der Bürger aus eigener Kraft thun kann, nicht auf hohe obrigkeitliche Anregung oder Nöthigung wartet. Ich könnte mancherlei Interessantes über diese Reisende-, Kunst- und Alterthums-Vereine und deren Thätigkeit mittheilen, will aber hier nur noch mit einem Worte des Vereins gedenken, welchen man auf vlamisch schlechtweg die „Emulatie“ nennt, während er auf französisch „La société d’émulation“ genannt wird. Er weckt und entfaltet unter den Bürgern
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_694.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2024)