Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1885) 030.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Karsten Lehr.
Ein Beitrag zur Geschichte des seemännischen Aberglaubens.
Aus dem Nachlasse von Edmund Höfer.
{Schluß.)


In den folgenden Tagen war viel vom „Amerikaner“ die Rede, der ein besonders großes Schiff war und vermuthlich hier überwintern mußte. Der Kapitän sollte ein höflicher, aber im Ganzen zurückhaltender Mann sein und sich im ersten Gasthof einquartiert haben. Ich begegnete ihm ein paarmal auf meinen Gängen. Das Wetter war hell geworden und zum leichten Frost umgeschlagen. Er schien sich in Begleitung des Negers die Stadt anzusehen. Ich hörte ihn mit dem Burschen englisch reden, doch sollte er sich sonst auch deutsch mit ziemlicher Geläufigkeit ausdrücken.

Als ich zu Anfang der folgenden Woche einmal wieder in den „Schlagtodt“ kam, fehlte Karsten aufs neue, und der Wirth machte ein sorgenvolles Gesicht. „Ich hätte Sie heut’ noch rufen lassen, Herr,“ sagte er. „Es ist nicht gut mit dem Alten. Er klagt nicht, aber er will nicht aus dem Loch und sitzt allein und trinkt Tag und Nacht – das bringt einen Riesen um. Reden Sie mit ihm, auf mich hört er nicht.“ – „Gut, so will ich gleich zu ihm. Wo wohnt er? Ich hörte nie von seiner Wohnung,“ versetzte ich. – Und da erwiderte Christopher grollend: „Ja Herr, das gehört auch dazu. Er hat sich mit dem alten Wallis gezankt und ihm den Stuhl vor die Thür gesetzt. Da hab’ ich ihn denn wohl hier bei mir einlogiren müssen.“ – „Schon recht, wo find’ ich ihn also?“ fragte ich. – „Ich muß Sie selber hinbringen, Herr,“ erwiderte er, halb verdrießlich, halb verlegen. „Es hat mit dem Platz so seine eigene Bewandtniß – es darf nicht davon geredet werden.“ – Ich sah ihn ganz verwundert an. „Was giebt’s, Herr Wirth?“ – „Ei Herr, der Platz muß unbekannt bleiben,“ sagte er achselzuckend. „Nichts für ungut, es ist ’mal nicht anders.“

Er führte mich die Treppe hinauf, durch einen langen Gang und wieder über eine steile Stiege, unter dem Dach hin und zwischen aufgeschichtetem Torf entlang, bis an die durch allerlei altes Gerümpel verstellte Schlußwand. Da trat er um ein paar Möbelstücke und klopfte taktmäßig an. War’s eine Wand oder eine Thür? Es war hier so dunkel, daß man von seiner Umgebung so gut wie nichts zu unterscheiden vermochte. Und nun ging eine Thür auf, und ein kleines, nur durch ein Oberlicht und eine Kerze auf dem Dach dämmerig erhelltes, von Cigarrenrauch erfülltes Gemach lag vor uns. Am Tisch saß Karsten vor Flasche und Glas und schaute uns mit stierem Blick entgegen, ohne sich übrigens zu regen. „Da sitzt er,“ sagte der Wirth. „Wenn Sie hernach gehen, Herr, so soll meine Frau auf Sie passen.“ Und damit trat er zurück und drückte die Thür hinter sich ins Schloß.

So war ich mit Karsten allein, und hatte mich das Bisherige überrascht, so bestürzte mich beinah, was ich nun vor mir sah. Ich hatte den Alten seither nicht blos ruhiger, sondern auch gewissermaßen solider gefunden, als er sich in den alten Zeiten zu geben pflegte. Sein Durst gehörte nun einmal ebenso gut zu ihm, wie der Stoff, mit dem er ihn am liebsten löschte, eigentlich übernommen aber hatte er sich vor meinen Augen bisher nie, wie groß ein paarmal auch seine Aufregung, wie tief zu anderen Zeiten seine Versunkenheit gewesen, von der ich gesagt habe. Er hatte sich, so wie's darauf ankam, stets rasch und vollständig wieder aufzuraffen vermocht. Mit dem hier vor mir schien es jetzt aber ganz zu Ende zu sein, und die Veranlassung war nicht zweifelhaft. Die Rumflasche war fast leer, in der Wasserflasche fehlte kein Dropfen, und das Glas enthielt den reinen Stoff. Von seinem Aussehen habe ich schon gesagt, seine Antwort auf meinen Gruß war ein unverständliches Murmeln, und die Hand, welche er mit einer sozusagen willenlosen Bewegung in die meinige legte, war so welk, als sei kein einziger Knochen darin.

Ich behielt sie in der meinigen und schaute ihn fest an. „Nun, was ist denn mit Dir, alter Mensch?“ fragte ich nicht grade freundlich, denn ich sorgte weniger um ihn, als daß mich dieser Zustand anwiderte. Er blickte nicht auf, sein Gesicht blieb unverändert, die Hand gleich leblos. „Schlafen, Junge, schlafen – ich kann’s nicht!“ murmelte er in klanglosem Ton. – Ich faßte die Hand fester, sie wäre mir sonst entfallen. „Ja, wie kann man denn hier schlafen?“ fragte ich, mich in dem armseligen Gelaß umschauend, – „in diesem licht- und luftlosen Loch, immer allein und mit der Rumflasche als Tröster?“ – Er saß regungslos in seinem dumpfen Brüten, vielleicht hatte er meine Worte auch gar nicht gehört.

„Mach’, daß Du hinaus und hinunter kommst,“ fuhr ich fort, „unter Menschen! Hier erstickst Du oder wirst toll.“ Es regte sich noch immer nichts und da sagt’ ich – der Vorwurf von Feigheit hätte ihn, wie ich wohl wußte, früher von den Todten aufgerufen! – mit allem Bedacht: „Oder hast Du Angst vor den Menschen und verkriechst Dich hier blos?“

Es zuckte wie ein Blitz durch ihn hin; die Hand wurde hart wie Eisen und die Finger spannten sich um die meinen; der Kopf flog auf mit einem Ruck, das Auge traf mich mit drohendem Blick. „Was weißt Du? Wer hat Dir ’was gesagt?“ fuhr er mich ingrimmig an. Und er stand auf den Füßen, – „wird’s, Junge?“ – Ich kann nicht sagen, daß ich erschrocken gewesen wäre, denn ich erlebte einen so jähen Wechsel an ihm nicht zum ersten Mal und hatte, wie gesagt, durch meine Worte eine solche Wirkung zu erzielen gewünscht. Ueberraschend aber blieb ein derartiger Ausbruch immer, und ich mußte mich ernstlich zusammen nehmen, daß ich nicht nachgab, denn dann würde mein Wagniß umsonst geblieben und er entweder in sinnlose Wuth gerathen, oder in die frühere Stumpfheit zurückgesunken sein. Und ich sah ihm fest in das brennende Auge und versetzte so kalt wie nur möglich. „Bist Du schon toll geworden, Karsten? Was sollt’ ich wissen? Wer sollte mir ’was gesagt haben? Oder traf ich’s wirklich, und verkriechst Du Dich hier tatsächlich in dem Hundeloch?“

Er stand vor mir, bebend vor Aufregung; das Auge funkelte, das erstarrte Gesicht hatte ein unheimliches Leben gewonnen, seine Fäuste ballten sich – wollte er mich anpacken? Aber jählings zuckte es durch die wilden Züge und ließ sie, zumal um den Mund, starr und hart werden wie nie zuvor.

„Verkriechen – ich – vor dem Gesindel? – Oh!“ knirschte er, die Fäuste schüttelnd. Er wandte sich zum Tisch und stürzte das noch halb gefüllte Glas ’runter. Und es hart niedersetzend, kehrte er sich wieder gegen mich. „Komm’ mit, Junge, will Dir was zeigen!“ grollte er und trat von mir fort, gegen die Wand. Da schob er etwas wie einen bisher nicht sichtbaren Schieber zurück und ließ eine Oeffnung erscheinen, durch welche plötzlich das scharfe Licht des klaren Wintertags in das halbdunkle Gemach schoß. „Da tritt hin und guck’ hinaus – da ist’s!“

Mir wurde ein überraschender Anblick. Es war nur eine Mauerlücke, wie sie hie und da die Gerüststangen zu hinterlassen pflegen, vielleicht zwei, höchsteus drei Mauersteine groß und dennoch für ein nahes Auge groß genug, um ihm eine wunderbare Aussicht zu eröffnen Ich habe erzählt, daß der „Schlagtodt“ hart am Hafenthor lag, sodaß die Rückwand seiner Hintergebäude nothwendig an die alte Stadtmauer stoßen oder, wie auch anderwärts, durch diese selbst gebildet werden mußte. So lag denn wirklich, bei geringer Wendung des Blicks, ein großer Theil des Hafens vor mir, ein Vorzug, dessen sich vermuthlich kein anderes Haus dieser Stadtgegend rühmen durfte – denn die Steuerbehörde duldete hier nichts wie eine Fensteröffnung – und ein besonderer Vorzug des kleinen Zimmers, in dem wir weilten. Denn wahrscheinlich diente es gelegentlich zum sicheren Aufenthalt für Bursche, welche ihrem Schiffe entlaufen waren und sich des Wirths Protektion verschafft hatten, ihr Fahrzeug aber dennoch gern im Auge behalten wollten, bis sie nichts mehr von ihm zu besorgen hatten.

Leben war da draußen in dieser Jahreszeit nicht viel; die Schiffe lagen fast oder ganz abgetakelt, hüben und drüben gedrängt am Bollwerk entlang, mit einer leichten Schnee- oder Reifdecke überzogen und ohne einen Mann an Bord – Wächter pflegten nur Nachts aufgestellt zu werden. Nur ein einziges war voll Bewegung – der Amerikaner „Die drei Brüder“, der uns gegenüber an der Werft lag und die Zimmerleute an Bord hatte. Es war, wie bemerkt, ein spiegelklarer Tag, sodaß ich von meinem

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_030.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2018)
OSZAR »