Verschiedene: Die Gartenlaube (1885) | |
|
„Gerade so lieb, wie Du Reinhold lieb hast? Ja, Papa?“
„Nun ja doch, Kind!“
„Ach, da bin ich froh! Da wirst Du mich doch auch hier lassen! – Wer sollte denn auch mit Holdchen spielen? Wer sollte denn sein Pferdchen sein, wenn ich nicht mehr da bin? Andere Kinder thun’s nicht, weil er so schlimm mit der Gerte haut. Gelt, Papa, es war nicht Dein Ernst mit dem Fortreisen? Du hast mir nur gedroht, weil ich so wild wie ein Junge bin? Aber ich will nun besser werden, ich will auch höflich gegen die kleinen Prinzessinnen sein! … Gelt, ich darf dableiben bei Dir und Allen, ja? Papa, hörst Du denn nicht?“
Herr Lamprecht zuckte bei der Berührung der kleinen, seinen Arm schüttelnden Hand wie aus einem marternden Traume empor. „Gott im Himmel, Kind, quäle mich nicht auch mit Deinen entsetzlichen Fragetönen! Es ist zum Verrücktwerden!“ fuhr er das zurückschreckende Kind an. Er wühlte mit beiden Händen in seinem Haar, preßte sich wiederholt die Stirn und schritt ein paar Mal in wilder Hast auf und ab.
Es mochten eben nur die monotonen „Fragetöne“ gewesen sein, die ihn in ihrer dringlichen Wiederholung irritirt hatten – den Sinn derselben faßte er wohl erst nachträglich, als er ruhiger wurde. „Du machst Dir einen ganz falschen Begriff, Gretchen!“ sagte er endlich stehenbleibend in milderem Ton. „Dort, wohin ich Dich bringen will, hast Du eine Menge lustiger Spielkameraden, lauter kleine Mädchen, die sich untereinander lieb haben wie Schwestern. Ich kenne manches Kind, das bitterlich geweint hat, als es wieder nach Hause geholt wurde.… Uebrigens ist Deine Erziehung in einem Institut eine längst beschlossene Sache zwischen mir und der Großmama – es handelt sich nur noch um den Termin, um das ‚Wann‘ der Aufnahme. Ich habe nunmehr den Beschluß gefaßt, und dabei bleibt’s! … Es ist am besten, ich gehe gleich zu Tante Sophie, um das Nöthige mit ihr zu besprechen.“
Bei den letzten Worten schritt er nach der Flurthüre. „Gehe mit, Grete! Hier oben kannst Du nicht bleiben!“ rief er ihr zu, als sie unbeweglich in der Fensterecke stehen blieb. Sie kam langsam mit gesenktem Kopf über den Saal her – er ließ sie an sich vorbei über die Schwelle gehen, dann drehte er den Thürschlüssel um, zog ihn ab und ging die Treppe hinunter.
In Geisterschlingen.
Kaum irgend eine Verirrung des menschlichen Geistes hat in verhältnißmäßig kurzer Zeit so sehr um sich gegriffen und an Anhängerzahl gewonnen, wie der moderne Geisterglaube (vergleiche die „Gartenlaube“, Jahrgang 1876, Nr. 1 bis 3). Es ist bekannt, daß insbesondere in Nordamerika, in England, Frankreich, Belgien und Rußland Hunderte von Spiritistengemeinden bestehen, die ihre Anhänger nach Tausenden zählen. Trotz der mannigfachen Entlarvung der sogenannten Medien, welche Klarstellung nicht nur Männern von wissenschaftlicher Bedeutung zu verdanken ist, sondern wozu auch scharfe Beobachter aus Laienkreisen, ja sogar Mitglieder hoher fürstlicher Familien ihren Einfluß geltend gemacht haben, konnten die fanatischen Anhänger des Spiritismus nicht endgültig davon überzeugt werden, daß sie das Opfer von Schwindlern und Taschenspielern sind und gewesen sind.
Mögen die folgenden Mittheilungen dazu beitragen, Licht in diese Dunkelheit der Täuschungen und Verblendungen zu bringen. Daß es Betrüger und Betrügerinnen nicht nur verstanden haben, sich das Vertrauen gläubiger Seelen zu erwerben, sondern auch hervorragenden Männern der Wissenschaft den Kopf zu verdrehen, geht in erster Linie aus dem Umstande hervor, daß der verstorbene Leipziger Professor der Astrophysik, der berühmte Gelehrte Dr. F. Zöllner, ein umfangreiches, mit vielen Abbildungen und zahlreichen Photographien versehenes, die „Transcendentale Physik“ betiteltes und 1189 Seiten starkes Werk herausgegeben hat, in welchem er es versuchte, dem Spiritismus ein wissenschaftliches Gewand anzulegen. Das Werk ist dem „experimentalen“ Begründer der transcendentalen Physik, dem Professor William Crookes in London, gewidmet.
Während Professor Zöllner durch einen amerikanischen Betrüger, den Taschenspieler Henry Slade, welchen er vertrauensvoll in sein Haus aufgenommen hatte, in der unverantwortlichsten Weise bethört worden war, unterlag Crookes demselben Schicksal durch ein Frauenzimmer, Mrs. Florence Cook, später verehelichte Mrs. Corner. Sie brachte es in ihrer Durchtriebenheit so weit, im verdunkelten Zimmer im Nu ihre Kleider abzuwerfen und als „Geist“ den versammelten Gläubigen zu erscheinen, und zwar als „Kate King“, Tochter eines Mitte des 17. Jahrhundert in England berühmt gewesenen Missionärs. Sie genoß bekanntlich bei den Spiritisten Jahre lang durch ihre „Materialisationen“ großes Ansehen.
Einem in der Londoner fashionablen Welt bekannten Herrn, Sir George Sitwell, gelang es, als Mrs. Corner in einer Soirée wiederum den Geist Kate King’s erscheinen ließ, die im Halbdunkel abgeworfenen Kleider der Mrs. Corner zu erfassen, den Geist festzuhalten und bei sofort angezündeter Gasflamme die entkleidete Betrügerin in eklatantester Weise zu entlarven. In wie weit die Keckheit dieses spiritistischen Mediums einerseits, und die Verblendung selbst großer Männer andererseits gegangen, ist aus einer Originalphotographie ersichtlich, welche von zuverlässigster Seite uns zukam.
Die Photographie stellt den der Frau Corner „frappant ähnlichen“ Geist Kate King dar, sowie das gläubige Mitglied der Royal Society, unsern Professor, beide aufgenommen Nachts zwölf Uhr von H. Russel Wallace, dem großen Biologen. Von dieser Photographie erzählt Zöllner in seinem oben erwähnten Werke: „Als ich Crookes meines aufrichtigen Interesses an der Sache versicherte, zeigte er mir eine Photographie jener Kate King, deren Anblick mich, der ich damals noch nicht von der Wahrheit des Spiritismus überzeugt war, zu der Frage ganz unwillkürlich veranlaßte, ob man nicht einen Abdruck von dieser Photographie erhalten könne und wo dieses Wesen in England anzutreffen sei. Der Leser wird mein Erstaunen und das nur mühsam unterdrückte Lächeln begreifen, als mir Crookes auf meine Frage, wo dieses holdselige Wesen existire, ganz trocken und ernsthaft erwiderte: ‚Two hundred years ago!‘ (‚Zweihundert Jahre früher!‘)“ Kaum glaublich, aber wahr und so geschehen im Jahrhunderte der Elektrizität und im Jahre des Heils 1875 und zu lesen Seite 145 in Zöllner’s „Transcendentaler Physik“. –
Zöllner’s Slade hatte man in England in der gleich eklatanten Weise wie Mistreß Corner entlarvt und nichts mehr von ihm gehört, wie denn überhaupt auch alle anderen vom Jahre 1875 bis 1881 so sehr berühmt gewesenen Medien, wie Firman, Bastian, Home Holmes, Monck u. A. vom Schauplatze ihrer betrügerischen Thätigkeit nun verschwunden sind.
Zu dem Schwindel der modernen Geisterlehre trat im jüngsten und vorjüngsten Jahre noch der aus Amerika eingeführte Humbug des „Gedankenlesens“ hinzu. Ein amerikanischer geschickter Experimentator Mr. Washington Irving Bishop trat mit der Behauptung auf, die Gabe zu besitzen, gewisse Gedanken, welche bestimmte Menschen auf einen Gegenstand richten, errathen zu können, und er erklärt das auffallende Gelingen seiner Vorführungen durch eine angeblich eigenthümliche Beziehung der geistigen Fernwirkungen seiner Gehirnthätigkeit zu dem Gehirne desjenigen, mit welchem er experimentirt.
Bishop erfand unter Anderem die Kunststücke, Nadeln, die an irgend einer Stelle eines Zimmers, eines Hauses, oder in einem dem betreffenden Hause benachbarten Raume von einer bestimmten Person versteckt worden waren, an deren Hand geführt, aufzufinden, ebenso im Verborgenen aufgeschriebene Ziffern zu errathen, oder auch Personen und Gegenstände, welche, ohne daß er dabei gewesen sei, dem „Medium“ bezeichnet wurden, herauszufinden. Später unternahm ein Engländer, welchen Bishop seinen eignen früheren Reisebegleiter in seinen Vorträgen nannte und als einen gewissen Charles Garner bezeichnete, in Oesterreich und Deutschland unter dem Namen Stuart H. Cumberland als Antispiritist Gedankenerrathungs-Kunstreisen, und es gelang ihm auch sowohl in Wien als in Berlin sich bis in die höchsten Kreise Eingang zu verschaffen. Cumberland hat sogar in jüngster Zeit eine höchst amüsante, deutsch geschriebene Autobiographie herausgegeben, in welcher er von seinen Wunderthaten und Entlarvungen spiritistischer Medien erzählt und die Namen aller derartigen einigermaßen bekannten Persönlichkeiten, mit denen er zu thun gehabt, zum Besten giebt.
In den jüngsten Wochen bereist ein anderer Antispiritist und Gedankenleser unter dem Pseudonym Charles Bellini die deutschen Städte. Derselbe, ein intelligenter Hamburger, seines Standes Kaufmann, hat es sich zur Aufgabe gestellt, nicht nur den Schwindel spiritistischer Experimente, welcher so vielen, selbst sehr klugen Menschen den Kopf verdreht hat, auf offener Scene zu entlarven, sondern auch öffentlich darzuthun, daß das „Gedankenlesen“ auf nichts weiterem als auf einer rein mechanischen Thätigkeit, sowie auf Taschenspielerkunststücken beruhe. Die Erfolge, deren sich Bellini in Hamburg, in Berlin, in Frankfurt am Main, Wiesbaden, Karlsruhe, Darmstadt und anderen deutschen Städten zu erfreuen hatte, sind ganz außerordentliche gewesen.
Das Experiment des Gedankenlesens beruht nämlich ausschließlich darauf, daß sensitive Personen, welche der Gedankenleser an der Hand
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_043.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2024)