Verschiedene: Die Gartenlaube (1885) | |
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dies und das „konfisciren“, z. B. Eßwaaren. Den Umstand, daß ihn die ihm aufgetragenen Arbeiten in die verschiedenen Räume des riesigen Gebäudes führten, wußte er so vortrefflich auszunützen, daß er sich eine genaue Kenntniß der Oertlichkeiten, ihrer Lage und ihrer Verhältnisse zu einander verschaffte. So erlickerte er, daß der kaiserliche Speisesaal genau über dem Werkstattkeller der Schreiner lag und daß aufwärts nur eine Räumlichkeit dazwischen sich befand, das Gelaß, welches den Soldaten der jeweiligen Schloßwache zum Aufenthalt angewiesen war.
Chalturin theilte das Gesammtergebniß seiner Beobachtungen einem Mitgliede des Exekutivkomité mit, Kwiatowski, welcher beauftragt war, die Verbindung mit dem lieben Lackirer zu unterhalten und demselben den nöthigen Vorrath von Sprengstoff zu liefern. Kwiatowski fiel jedoch am 6. December der auf ihn fahndenden Polizei in die Hände, und man fand bei ihm einen sauber gearbeiteten Plan vom Winterpalast, auf welchem der kaiserliche Speisesaal mit einem rothen Kreuz bezeichnet war. Das kam der Sicherheitsbehörde doch sehr bedenklich vor, um so bedenklicher, da der inzwischen nach Petersburg zurückgekehrte Zar sein gewohntes Winterquartier am Admiralitätsplatz bezogen hatte. Es wurde daraufhin wieder einmal ein Anlauf zu strenger Wachsamkeit und gewissenhafter Untersuchung aller fragwürdigen Merkmale und Erscheinungen genommen. Alle im Palast Aus- und Eingehenden unterwarf man beim Kommen und Gehen einer scharfen Visitation – für eine Weile. Plötzliche Besuche und Untersuche, auch nächtliche, fanden in allen Theilen des Schlosses statt, besonders aber in den Kellerräumen, in den Werkstätten und in den Behausungen der Dienerschaft.
Der kühne Lackirer hat uns den Schrecken geschildert, der auf ihn gefallen, als ihn zum erstenmal die nächtliche Runde aus dem Schlafe aufstörte. Eine ganze Schar von Gendarmen, den Palastoberst an der Spitze, war in den Keller gestürmt, um den Raum und dessen Insassen, die Schreiner, zu visitiren. Schon glaubte Chalturin alles verloren, d. h. seinen großen Sprengplan verrathen und vereitelt. Denn er hatte ja unter dem Kopfkissen seiner Lagerstätte ein Pack Dynamit, welches ihm von Kwiatowski zugesteckt und von ihm nach und nach hereingeschmuggelt worden war. Wurde das entdeckt, so war alles aus.
Aber es wurde nicht entdeckt. Die Herren Gendarmen machten mit ihren Stimmen, Säbeln und Sporen viel Lärm um nichts, d. h. sie verrichteten ihre Visitationsarbeit sehr obenhin. Unter Chalturins Kopfpolster zu greifen fiel gar keinem ein. Zwar wiederholten sich eine Zeit lang diese lärmenden nächtlichen Besuche, aber sie blieben resultatlos, weil eben gerade da, wo was zu finden war, nicht gesucht wurde. Chalturin athmete auf. Die nächtlichen Ruhestörungen machten ihm keine Sorge mehr, wohl aber machte ihm solche die bedeutend erhöhte Schwierigkeit, noch mehr Sprengstoff hereinzubringen und seinen Vorrath nicht allein vor den Augen der Gendarmen, sondern auch vor denen seiner Mitarbeiter zu verbergen. Als Dynamitlieferant war an die Stelle des verhafteten Kwiatowski’s Andrei Scheljabow vom Executivkomité „delegirt“ worden und mit tausend Listen brachten es die beiden Sprenger so weit, daß Chalturin im Laufe des ersten Monats von 1880 unter seinem Kopfpolster nach und nach 3 Pud (120 Pfund) des gefährlichen Materials ansammeln konnte, ohne auch nur den leisesten Verdacht zu erregen.
Es belustigte ihn, mit den die Werkstatt visitirenden Gendarmen über den allgemeinen petersburger Gesprächsgegenstand von dazumal, über Nihilisten, Socialisten und Terroristen zu plaudern. „Ja, ja,“ sagte da wohl einer der Säbelträger, „das rothe Kreuz auf dem Palastplan das haben die Schurken nicht für nichts und wieder nichts hingemalt. Es muß wo im Schlosse Verrätherei stecken. Es müßte hübsch sein, so einen Vogel zu fangen.“ Darauf der Lackirer mit geschickt vorgesteckter Schafsmiene: „Aber wie soll man denn so einen Schubjak erkennen? Steht es ihm doch nicht auf der Stirne geschrieben, daß er ein Nihilist.“ Zur Antwort wieder einer der Gendarmen: „Du dummer Muschik, was, du glaubst, wir vermöchten so einen Kerl von Nihilisten nicht zu erkennen? Sofort erkennt man ihn; denn der schaut hoch herab, sieht verzweifelt aus und fürchtet sich vor nichts. Den erkennst du gleich, Bruder. Aber nimm dich vor ihm in acht; denn im Umsehen jagt er dir eine Kugel in den Leib.“
Mit Scheljabow, welchen das Exekuktivkomité zum obersten Leiter der ganzen Unternehmung bestellt hatte, pflegte Chalturin am späten Abend auf dem Admiralitätsplatze zusammenzutreffen. Ihr flüchtiges und flüsterndes Gespräch verrieth mitunter, daß die beiden Verschwörer verschiedener Meinung waren. Nicht hinsichtlich des mörderischen Vorhabens, aber inbetreff der Ausführung.
Scheljabow nämlich vertrat die Ansicht des Exekutivkomité, daß es räthlich, den kaiserlichen Speisesaal, während der Zar mit seiner Familie bei Tische wäre, in die Luft zu sprengen. Dabei würde eben „nur“ die kaiserliche Familie, sowie „etwa noch“ die Soldaten von der Palastwache im Mitteltrakt des Schlosses vernichtet werden, und das „genüge“. Chalturin dagegen bestand darauf, den ganzen Winterpalast zu sprengen. „Denn – meinte er – die Zahl der unschuldigen Opfer wird so wie so groß sein. Darum ist es besser, möglichst viel Dynamit anzuwenden, damit die Leute wenigstens nicht „umsonst“ getödtet werden und damit Er selbst ganz bestimmt mitgesprengt werde, so daß wir dann nicht genöthigt sind, noch weitere Attentate zu vollführen“. Scheljabow jedoch blieb dabei, daß es genüge, den Speisesaal in die Luft zu sprengen, und daß hierzu das bereits angesammelte Sprengmaterial ausreiche. Der Lackirer fügte sich widerwillig und setzte dann seinem Genossen auseinander, daß zur Ermöglichung des Anschlags ein Zusammentreffen günstiger Umstände nöthig sein würde. Die Mittagsmahlzeit der kaiserlichen Familie fand nicht immer genau zur selbigen Zeit statt, sondern unter Umständen eine halbe Stunde früher oder später. Schon dadurch konnte der ganze Mordplan zunichtegemacht werden. Sodann war es unbedingt erforderlich, daß genau zu derselben Zeit, wo der Zar im Speisesaale sich befände, Chalturin allein unbeaufsichtigt in seiner Kellerwerkstatt wäre, um das Letzte „am Werke“ thun zu können.
Zu diesem Letzten fühlte sich der Lackirer, als der Februar herangekommen, immer mehr gedrängt. Ohnehin krank, wie er war – lungenkrank – vermochte er auf der Mine unter seinem Kopfkissen nicht mehr zu schlafen; denn der vom Nitroglyzerin ausströmende Giftdunst bereitete ihm furchtbare Kopfschmerzen. Den also körperlich Leidenden stachelte die beständige Angst, daß er jeden Augenblick errathen und verrathen werden könnte, in eine Ueberreizung der Nerven hinein, deren Beherrschung eine wunderbare Willenskraft und Verstellungskunst erforderte. Indessen war er sich klar, daß er das alles nicht lange mehr aushalten könnte, und er eilte daher zum Ende. Er that in den seltenen Augenblicken, wo er in der Werkstatt allein und gänzlich unbeobachtet war, die 120 Pfund Dynamit in seinen Koffer und verbarg das vulkanische Zeug so gut wie möglich unter Kleidern und Wäsche. Dann stellte er den Koffer in einen dunklen Winkel zwischen zwei Grundmauern, nachdem er sich vergewissert hatte, daß dieser Winkel gerade unter dem Wachtlokal und folglich auch unter dem kaiserlichen Speisesaal gelegen sei. Hierauf füllte er zwei Leitröhren mit einer eigens hierzu gefertigten Zündmasse und brachte die geschickt an und in dem Mauerwerk versteckten Röhren mit dem Innern seines Koffers in Verbindung. So war diese Koffer-Mine hergestellt, geladen, zündbereit.
Wenn die Späher und Sbirren der „dritten Abtheilung von Sr. Majestät eigener Kanzlei“ schärfere Augen und feinere Ohren gehabt hätten, als sie hatten, müßte ihnen ein zwar unscheinbares, aber nicht unwichtiges Geschehniß aufgefallen sein, welches eine Reihe von Abenden hindurch auf dem Platze vor dem Winterpalast sich wiederholte. Da begegneten einander regelmäßig zwei Männer, beide im Arbeiteranzug, der eine groß und stattlich, der andere klein und schmächtig. Sie begrüßten einander nicht, blieben auch nicht stehen und ihr ganzer Verkehr beschränkte sich darauf, daß, während sie an einander vorübergingen ohne sich anzusehen, der Schmächtige vor sich hinflüsterte: „War nicht möglich!“ oder auch nur: „Nitschewo!“
Am Abend vom 5. (17.) Februar 1880 fand diese Begegnung abermals statt. Dem so eben auf dem Platz angelangten Scheljabow kam von der Palastseite her Chalturin eilends entgegen. „Gotowo!“ keuchte er athemlos. Kaum war dieses „Fertig!“ gesprochen und vernommen, als die Bestätigung des Wortes erfolgte in Gestalt einer furchtbaren Donnerung, die vom Palast herkam, allwo im selbigen Augenblick alle Lichter erloschen.
Die von Chalturin entzündete Lunte hatte die Mine erreicht. Sie war ausgeborsten. Aber hatte der Schlag getroffen?
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_047.jpg&oldid=- (Version vom 8.1.2023)