Verschiedene: Die Gartenlaube (1885) | |
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In diese grelle Beleuchtung trat zuerst die Baronin Taubeneck und watschelte an Herbert’s Arm nach dem Wagen. Sie war von einer übermäßigen Korpulenz, und die Tochter, die ihr folgte, mochte ihr später darin ähnlich werden. Jetzt freilich hatte ihre hohe, volle Gestalt noch schöne, ebenmäßige Linien. Sie zog die schwarze Spitzenhülle fester über das tief in die Stirn fallende Blondhaar, setzte sich vornehm ruhig neben die keuchende Mama und sah sehr theilnahmlos auf die übrigen Gäste herab, welche, noch einmal sich verabschiedend, den Wagen umringten, um sich dann nach allen Richtungen hin zu zerstreuen.
Herbert war sofort mit einer tiefen Verbeugung zurückgetreten – das sah nicht aus, als habe die Verlobung in der That stattgefunden – die Frau Amtsräthin dagegen hatte die Hand der jungen Dame zwischen die ihren genommen, sie preßte sie unter fortwährendem, nahezu aufdringlichem Sprechen und bog plötzlich, wie von Zärtlichkeit überwältigt, ihr Gesicht auf die hellbehandschuhte Rechte, um, Margarete vermochte nicht zu unterscheiden ob den Mund oder die Wange darauf zu drücken.
Sie fuhr unwillkürlich vom Fenster zurück. Das Blut strömte ihr heiß nach den Schläfen – sie schämte sich in tiefster Seele für die alte, weißhaarige Dame, die ihre sonstige stolze Gemessenheit und Würde einem so jungen Geschöpf gegenüber völlig verlor.
Ganz erbittert sprang sie vom Fenstertritt. In was für ein armseliges, beschränktes Thun und Treiben war sie zurückgekommen! Hatte sie deßhalb den weiten Flug in ferne Lande und alte Zeiten gemacht und sich an dem berauscht, was der Menschengeist im edlen Schönheitsgefühl, im Freiheitsdrange an Idealen ersonnen und erstürmt, um hier an der widerlichsten Kriecherei zu sehen, wie geistig arm der Mensch werden kann? ... Nein, der Käfig war zu eng! Auch nicht die äußersten Spitzen der freiheitgewohnten Flügel ihres Geistes opferte sie, um sich ihm anzubequemen! ... das, was augenblicklich dominirend und entnervend durch das gesammte moderne Leben ging, der Servilismus, die Machtanbetung, das ungenirte Buhlen um die Gnade einflußreicher Persönlichkeiten, das waren jetzt die Gespenster im Lamprechtshause, gegen die sie sich ihres Leibes und Lebens zu wehren hatte! – Wahrlich, „die schöne Frau mit den Karfunkelsteinen“, die einzig aus rücksichtsloser, heißer Liebe die Grabesruhe verwirkt, sie stand groß neben den kleinen Seelen! ...
Draußen rollte der Wagen davon. Margarete verließ die Wohnstube; aber sie flog nicht, wie sie wohl gleich beim Kommen im ersten Impuls gethan, den Ihren entgegen – wie angefröstelt stieg sie langsam die wenigen in den Hausflur führenden Stufen hinab.
Herbert schien eben die Treppe hinauf gehen zu wollen und der Kommerzienrath kam über die Schwelle in den Hausflur zurück. Auf seinem Gesicht lag noch der Glanz befriedigten Stolzes über die seinem Hause widerfahrene Ehre. Er stutzte bei Margaretens Erblicken, breitete aber gleich darauf unter einem Freudenruf die Arme aus und zog die Heimgekehrte an seine Brust. Und da war auch wieder ein Lächeln auf ihren Lippen.
„Ei, bist Du es wirklich, Gretchen?“ rief die Frau Amtsräthin, die in diesem Augenblick in Reinhold’s Begleitung von draußen hereintrat. „So ganz wider Erwarten?“ – Sie ließ die Schleppe, die sie mit spitzen Fingern sorgsam hoch über dem Boden hielt, rauschend niedersinken, streckte dem jungen Mädchen die Rechte entgegen und hielt ihr mit würdevoller Grazie die Wange zum Kuß hin. Das schien die Enkelin nicht zu bemerken – sie berührte die großmütterliche Hand mit ihren Lippen und schlang dann die Arme um den Hals des Bruders ... Ja, sie hatte ihm vorhin ernstlich gegrollt! Aber er war ja ihr einziger Bruder, und er war krank; das heimtückische Leiden raubte ihm die Jugend, allen Glanz, allen Zauber der himmlisch schönen „achtzehn Jahre“. Und wie das Herz unruhig und beängstigend hastete in der schmalen Brust, an welche sie sich schmiegte! Wie sein Körper sich frostig schüttelte unter dem kühlen Nachthauch, der vom Markte hereinblies! –
„Gehen wir hinauf! Der zugige Hausflur ist ein schlechter Begrüßungsort!“ mahnte der Kommerzienrath. Er legte seinen Arm wieder um Margaretens Schultern und stieg mit ihr die Treppe hinauf, Herbert nach, der um eine Anzahl Stufen voraus war.
„Großes Mädchen!“ sagte der Papa und maß mit väterlich stolzem Blick die jugendliche Gestalt neben sich.
„Ja, sie ist noch recht gewachsen,“ meinte die Großmama, die an Reinhold’s Arm langsam nachkam. „Mußt Du nicht auch lebhaft an Fanny’s Züge und Erscheinung denken, Balduin?“
„Nein, ganz und gar nicht! Die Gretel hat ein echtes Lamprechtsgesicht,“ entgegnete er, und seine Stirn verfinsterte sich.
Droben im großen Salon stand Tante Sophie an einem Seitentisch und zählte das gebrauchte Silberzeug in einen Korb. Sie lachte über das ganze Gesicht, als Margarete auf sie zuflog. „Dein Bett steht bereit, auf dem nämlichen Platz, wo Du als Kind alle Deine lustigen und dummen Streiche verschlafen hast,“ sagte sie, nachdem sie unter der stürmischen Umarmung des jungen Mädchens zu Athem gekommen war. „Und in der Hofstube nebenan ist’s auch ganz huschelig und gemüthlich, wie Du’s immer gern hattest.“
„Also ein Komplott!“ meinte die Frau Amtsräthin mit scharfer Rüge. „Tante Sophie war die Vertraute, und wir Anderen mußten uns bescheiden, bis der große Moment gekommen war!“ Sie zuckte mit den Schultern und ließ sich auf den nächsten Stuhl nieder. „Wäre er nur früher gekommen, dieser große Moment, Grete! Aber Deine Heimkehr jetzt hat so gut wie gar keinen Zweck – der Hof geht in den nächsten vierzehn Tagen nach M. zurück; von einer Vorstellung wird kaum noch die Rede sein können.“
„Sei Du froh, liebe Großmama! Du würdest doch keine Ehre mit mir einlegen. Du glaubst gar nicht, was für ein Hasenfuß ich bin, was für ein schauderhaft täppisches Ding, wenn ich die Kourage verliere! Das heißt, vor unseren lieben, alten Herrschaften würde ich Stand halten – die sind mild und gütig und verschüchtern ein zaghaftes Menschenkind nie geflissentlich. Aber die Anderen“ – sie brach ab und fuhr sich mit der Hand unwillkürlich durch die Locken. „Deßhalb bin ich ja aber auch gar nicht gekommen, Großmama, der Weihnachtsbaum hat mir’s angethan, Weihnachten drunten in der Wohnstube! Ich habe mich sattgesehen an all den Konfektfiguren und den Buchbinder-Meisterwerken, die Tante Elise kauft und mühelos an den Baum hängt. Ich will wieder jene Vorbereitungsabende durchleben, wo es draußen stürmt und schneit und drin in der warmen Stube die Nüsse auf dem Tische rasseln, das Blattgold herumfliegt und aus der Küche der Duft von selbstgebackenen Kringeln und allerhand undefinirbarem Wundergethier durch die Schlüssellöcher und Thürspalten zieht. Das Hübscheste wird freilich fehlen, Tante Sophiens verdeckter Nähkorb, aus welchem dann und wann ein Endchen von angefangenem Puppenstaat guckte; und über die Bilderbücher bin ich leider auch hinaus. Aber von Bärbe verlange ich nach wie vor meinen Pfefferkuchenreiter –“
„Kinderei!“ schalt die Frau Amtsräthin ärgerlich. „Schäme Dich, Grete! Du kommst ja nicht um ein Haar gebessert zurück!“
„Ja, das sagte Onkel Herbert auch schon.“
„Nicht in dem Sinne,“ berichtigte der Landrath kühl. Er war mit in den Salon hereingekommen, hatte sich bis dahin vollkommen passiv verhalten und stand eben vor dem Tafelaufsatz, wo er mit vorsichtigem Finger die Blumen und Früchte auseinander schob, um das wundervoll gearbeitete Takelwerk des Silberschiffes besser sehen zu können ... Ob er das alte, wohlbekannte Familienschaustück der Lamprechts wirklich noch nicht gesehen hatte, der Herr Landrath? –
„Was, Du hast den Onkel schon gesprochen?“ fragte Reinhold sehr erstaunt von der Birne aufblickend, die er sich schälte. „Wie ist denn das möglich?“
„Sehr leicht, Holdchen, dieweil ich vorhin in Person hier oben gewesen bin.“ –
„Doch nicht in der Absicht, einzutreten?“ rief die Frau Amtsräthin in nachträglichem Schrecken.
„Mit der Eskimofrisur und in dem gräßlichen schwarzen Fähnchen?“ setzte Reinhold mit einer grotesken Abscheugeberde hinzu. „Hast Dich ja ganz famos herausgeputzt in Deinem Berlin, Grete!“
Margarete lachte und sah auf ihr Kleid herab. „Alterire Dich nicht, Reinhold, es ist nicht mein einziges und bestes!“ Sie wandte den Rocksaum musternd und achselzuckend hin und her.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_106.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)