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Seite:Die Gartenlaube (1885) 115.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

kommen in die Stadt, und tausend Hände winden sie zu Sträußchen und vornehmen Bouquetts; die Musiker probiren ihre Instrumente, der Staub wird von den ältesten Guitarren gefegt, und die Leierkasten setzen neue Tanzwalzen auf.

Die Hôtels, Gasthäuser und „Cafe mobiliate“ füllen sich mit blonden und rothhaarigen „Barbaren“, und gleichzeitig strömt das stattliche Landvolk der Albaner-, Sabiner-, Herniker- und Volskerberge in malerischen Trachten schaarenweis zu allen Thoren der heiligen Stadt herein, die in diesen Tagen die Heiligkeit an den höchsten Nagel des Vatikan hängt, um einmal recht als weltliche Thörin sich auszutoben.

Es kann losgehen!

Vorher aber, o Wanderer aus Norden, laß dir rathen, deine deutsche Ernsthaftigkeit, dein Spießbürgerthum und alle griesgrämige Anschauung ebenfalls an jenen Nagel zu hängen, sonst genießest du nichts und schreibst am Ende gar wie Goethe am 21. Februar 1787 die unfreundlichen Worte in das Tagebuch: „Den Karneval in Rom muß man gesehen haben, um den Wunsch völlig loszuwerden, ihn je wieder zu sehen.“ Auf das Wie des Genießens kommt es an, o Freund! Und um richtig zu genießen, müßte man denn eben aus seiner deutschen Haut herausschlüpfen und ein Südländer, ein Römer werden.

„Der Römer,“ sagt Wilhelm Müller, der die Römer und – Römerinnen so gut verstand, „hat einen vortrefflichen Takt im Genusse, hingegeben und rücksichtslos, und doch immer bewnßt und anständig. Wir armen Nordländer! Wenn wir einmal den Wein der Freude in vollen Zügen kosten, so steigt er uns in den Kopf und wir schlafen oder zanken und prügeln uns. Der Römer genießt ihn mit dem täglichen Brote, und je mehr er trinkt, desto besser er ihm schmeckt.“

„Gönn’ ihm, nordischer Freund, die beneideten Freuden, und schelte
0 Keinen um flüchtigen Rausch, keinen um menschliches Glück.“

Ja, ein Rausch ist es, der sich jetzt des gesammten Volkes bemächtigt, und zwar nicht ein flüchtiger, der vom Abend zum Morgen verfliegt, sondern einer, der acht lange Tage vom Morgen bis zum Abend und dann die Nacht hindurch andauert. Acht Tage des übermüthigsten ausgelassensten Tosens und Tobens, Singens, Schreiens, Musizirens, Danzens und Zechens! Und zwar ohne je zu ermüden, ohne das Anzeichen der Sättigung oder des Ueberdrusses im Auge, in der Bewegung, in der Stimme.

Es ist zwei Uhr. Der langersehnte Kanonenschuß ist gefallen. Der Korso in seiner ganzen Länge, vom Obelisken des Platzes bis zum venetianischen Palaste und bis zum Kapitol hinab, muß jetzt von Karren und Lastwagen und allem Gefährt, das kein hochzeitlich Gewand trägt, geräumt werden, und wer philisterhafte Angst vor dem Gedränge im Herzen, oder einen schwarzen Rock oder einen vornehmen Cylinder trägt, drängt sich gleichermaßen in die Seitenwege hinein.

Denn jetzt strömt sie herbei, die tolle Fluth, brandend an den Palastreihen zur Rechten und Linken, Welle auf Welle, verschlingend und von der nächsten verschlungen, gedrängt und drängend, eine bunte kompakte Masse; aus der Höhe geschaut, eine bewegliche Mosaik von Menschenköpfen, in der das Individuum, das doch so gern durch auffallende Tracht, Masken und Gebahrung sich bemerklich machen möchte, nicht mehr zu bemerken ist. Aus dieser Bestrebung des Einzelnen, von Tausenden und aber Tausenden wiederholt, nachgeahmt und fortgepflanzt, entsteht ein so augenberückendes Treiben, ein so sinnbethörendes Gewirr, daß die Blicke des unbetheiligten Zuschauers wie die eines Trunkenen zu starren beginnen und erst nach und nach zum Sehen kommen.

Dann aber ist es ein prächtiges Bild, das sich auf der Straße und auf allen Balkonen entwickelt, und die römische Frühlingssonne funkelt und blitzt in die bunten Farben hinein und vergoldet selbst den aufwirbelnden Staub der von den Fenstern aus der Höhe auf alles Vorübergehende hinabgeschleuderten Confetti oder Coriandoli, die von den Hufen der Pferde oder den geschäftigen Menschenfüßen zerstampft werden. Denn der Confettikrieg ist die Hauptsache. Mit brausendem Jubelgeschrei übermüthiger Belagerer oder Belagerter wird er geführt und Hunderte von Centnern dieser schneeigen Gipskügelchen wirbeln, von Schaufeln und Händen geschleudert, durch die Luft, und helles Gelächter begleitet jeden wohlgezielten Wurf. Die Wagen, die in zwei langen Reihen, einer dicht hinter dem andern, langsam auf- und abfahrend, gleich dem Zuge der Kinder Israel das Volksmeer theilen, sehen bereits aus wie Müllerwagen und ihre Insassen wie Mühlknappen. Lange weiße Schutzmäntel, graue breite Filzhüte und Gesichtsmasken aus Draht tragen die Meisten aber auch an Kostümen und Kleidern der übrigen charakterlosen oder Charakter-Masken ist wenig zu verderben: derbe Stoffe, derber Schnitt, viel alter Plunder, viel Buntpapierwaare. Der Pulcinella, der Harlekin oder Bajazzo, hat seine Rolle noch lange nicht ausgespielt, in ungezählten möglichen und unmöglichen Exemplaren taucht er an allen Ecken und Enden auf; hier sogar als echter neapolitanischer „Signor Cetrolo“ auf der Hochzeitsreise von Neapel nach Rom begriffen, seine überspannte perfide junge schlanke Sposa am Arme eines echt neapolitanischen Stutzers, diese Drei und ihr verwandtschaftliches Gefolge werden durch eine Deputation der Quiriten mit Adresse, Radieschenbouquetts, Tamburo- und Mandolinenklängen empfangen und begrüßt und in eine der öldunstdurchschwängerten Kantinen zum rothen Castelliwein, zu Sang und Saltarello geschleppt.

Draußen aber fluthet und tost es weiter, und was man anfangs einer Steigerung nicht für fähig hielt, ist in stetigem Crescendo, vom musikalischen f zum ff, zum fff und noch weiter gewachsen. Und doch ist Maß in aller Tollheit, die Ausgelassenheit wird nie zur Rohheit, der kühnste Scherz nie zur Beleidigung, eine gewisse stolze Würde, der freie Anstand kommt dem Römer nie abhanden, und das mag besonders der Damenwelt zu Gute kommen, die, obgleich heute eben Alles erlaubt ist, von der Prinzessin bis zur verdächtigsten Trasteverinerin, sich frei und ungekränkt unter der Menge bewegen darf. Freilich übelnehmen darf Niemand etwas; auf einen kecken Spaß gehört eine kecke Antwort oder ist lustiges Lachen die beste. Die fremde Dame im feinen Zweispänner, die im hellen Zorn nach dem räubermäßig verkleideten Burschen, der, ihren Wagen von rückwärts her erkletternd, der Schönen einen großen Krautstrauß an den Busen stecken wollte, mit ihrem Sonnenschirm schlägt, ist verloren. Hunderte von lachenden, schreienden, johlenden Feinden nehmen den Wagen in die Mitte, weißer Staub umwirbelt ihn, er füllt sich in wenig Minuten mit Confetti, mit zerrupften und zertretenen Sträußen, und die böse Belagerung dauert noch vor der Hôtelthür fort.

Die graziös lächelnde Schönheit aber, die dem Volke echte Zuckerconfetti, Blumen und Kußhände zuwirft, wird von tausend Händen und Stimmen gefeiert. Die Wagen der Nobili halten unter ihrem Balkone und ein reizendes Blumenbombardement beginnt, dem die Schar der Gassenjungen nur zu gern assistirt, denn ein Bouquett, das, sein Ziel verfehlend, aus die Straße fällt, ist ihre Beute, die am nächsten Brunnen vom Gipsstaube gesäubert und Kauflustigen um wenige Soldi überlassen wird. „Fiori, fiori, belli fiori!“ Blumen! Blumen! ist der allüberall ertönende Ruf, der Blumenhandel an diesem Tage das blühendste Geschäft! Und in der That, wer hätte den Muth, die schönen Römerinnen mit den großen siegesgewissen Augen, den kußverheißenden Lippen, den schwarzen Haaren und junonischen Nacken mit schnödem Gips zu begrüßen? Nur ein Blumengruß ist hier am Platze, nur die Blumensprache die artigste.

Ein schönes Bild, ohne Zweifel das anziehendste, ist ein mit schönen Römerinnen besetzter Balkon, von dessen Balustrade lichtblaue oder purpurrothe Teppiche herniederhangen, über die sich die schlanken Mädchenleiber zum Blumenwurfe nach vorüberziehenden Bekannten beugen oder getroffen lachend, leicht wie eine Feder zurückschnellen, um mit frischgefüllten Blumenkörbchen wieder hervorzutreten. Die helle Sonne dazu, der blaue Himmel, die althistorischen vornehmen Paläste – ein schönes unvergeßliches Bild.

„Blumen fliegen auf und nieder;
Ist es nicht, als strömten junge
Neckisch kecke Liebesgötter
Einen Regen hier von Rosen,
Dort von Veilchen in die Straße;
Nicht, als schleuderten sie lachend
Im Triumph auf Tausende
Zartverwundende Geschosse?“

Von all den andern Bildern, von all den fliehenden Gestalten nur Eines festzuhalten, will uns nicht gelingen. Hundertmal werden wir angelockt, hundertmal im nachbrandenden Strudel mit hinweggerissen; das kommt und schwindet, fast wesenlos, und wenn wir allein gekommen, bleiben wir auch allein, trotz der uns

umgebenden Menge, trotz der allgemeinen Gleichheit und Brüderschaft.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_115.jpg&oldid=- (Version vom 22.5.2020)
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