Verschiedene: Die Gartenlaube (1885) | |
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Wir sehen tausend verschiedene Figuren, eine Procession ohne Ende, und haben am Ende doch nichts gesehen, und den bunten Wechsel mit Feder und Stift festzuhalten will weder dem Dichter noch dem Maler gelingen, sie geben ein Nacheinander, wo doch die Gleichzeitigkeit ihre Hauptwirkung thut.
Einen hohen, ja den höchsten Reiz für den Römer hat der Karneval verloren durch das Verbot der „Barberi“. Seit zwei Jahren hat auf hohen obrigkeitlichen Befehl, weitere Unglücksfälle zu verhüten, das Wettrennen der Barberi aufgehört. Die Barberi sind zur Mythe geworden. – Früher donnerte am bestimmten Tage ein Kanonenschuß vom Obelisken her, und die Kutschen verschwanden vom Korso, und das Volk bildete zu beiden Seiten desselben ein dichtes Spalier. Dann sprengten die päpstlichen Dragoner die Straße herab und machten die Bahn frei bis zum Venezianischen Platz hinab. Jetzt klopften die Herzen, jetzt reckten die Hälse sich, jetzt stand Alles auf den Zehen ... sie mußten kommen, die wilden Rosse der Campagna, die ohne Sattel und Zaum, in ungezügelter Freiheit um die Ehre ihrer Besitzer liefen. Und sie kamen: donnernder Hufschlag, Wiehern, Schnauben, ein wildes Gewirr von Köpfen, Schweifen und Mähnen, lautes anfeuerndes Gebrüll des Volkes, Beifallsklatschen, das wie Kleingewehrfeuer mit den dahinjagenden Rossen die Straße entlang läuft und - das Spiel ist vorüber, ein letzter Rest der römischen Rennen antiker Zeit im Circus Maximus, ein Rest auch des päpstlichen Roms, wo neben den Vierfüßern auch die Zweifüßer zum Wettrennen angehalten wurden.
In früheren Zeiten mußten nämlich die Juden zur Karnevalsbelustigung laufen, um die Wette laufen wie die Barberi, und zwar nackt. So sah sie Michel Montaigne im Jahre 1581, und in dem Tagebuche eines römischen Kanzlisten vom Jahre 1583 (16. Februar) liest man die erbauliche Stelle: „Am Montag fand der gewöhnliche Wettlauf der acht nackten Ebräer statt, begünstigt von Wind, Regen und Kälte, wie es diese Treulosen, maskirt vom Koth und begleitet vom Hohngeschrei der Menge, verdienten.“ Der „Spaß“ ward aber noch größer, als der Karnevalsvorstand auf den Gedanken kam, die zweibeinigen Renner vorher zu überfüttern und betrunken zu machen.
Diese Schmach dauerte bis 1668. Am 28. Januar 1668 bestimmte Clemens IX. Rospigliosi durch ein Breve, daß die „Corsa degli Ebrei“ aufzuhören habe.
Auch von den alten Masken, wie sie Goethe noch gesehen, sind heute viele verschwunden, und die übrig gebliebenen treten so zahlreich wie früher nicht mehr auf; und was vom niederen Volke noch sich maskirt, verbindet damit meist den Zweck, die Zinsen seines im abnehmenden Monde stehenden Kapitals durch allerhand Spaßmacherei vor den Bänken der Fleischer, Bäcker, Wildbrett-, Frucht- und Weinhändler in kleinen und kleinsten Münzen einzutreiben. Diese „Don Niccolo“ entwickeln bei aller Gravität eine Zungenfertigkeit, die uns Nordländer in Erstaunen setzt, obwohl wir von dem Wortgeplätscher keine Silbe verstehen. Das originellste Karnevalsleben, von dem kein Dekret noch etwas hat hinwegschneiden können, finden wir aber, und besonders am Abend, in den Kneipen, „Osterien“, wie sie der Römer benennt. Hier, beim Wein, wird der alte Römergeist lebendig, hier wirbelt die Lust so voll und toll, daß uns zahmen Menschen angst und bange wird.
Wir schleichen hinaus. Eine laue Frühlingsluft umfängt uns. Schreien, Rufen, Räderrollen, abgerissene Musikklänge überall. Eben werden auf dem Korso die ersten Gasflammen entzündet, helle Laternen schimmern an den zahlreichen Kutschen, und nun beginnt er, der Irrlichtertanz. Dicht vor uns zuckt ein Flämmchen auf, drüben ein anderes, ein drittes, viertes ... eins, zwei ... ein Dutzend auf dem Balkone,
ebenso auf einem andern; es ist ein beständiges Aufblitzen geworden, eine Wolke
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_116.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2019)