Verschiedene: Die Gartenlaube (1885) | |
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„Ich – ich kann das Kläffen nicht vertragen, es greift mir die Nerven an -“
„Hör’ mir auf mit Deinen Nerven, Junge! Mir wird ganz übel bei dem Gewinsel! Schämst Du Dich denn nicht, zu thun, als hätten sie Dich im Altweiberspittel erzogen? ‚Meine Nerven!‘“ ahmte er ihm zornig nach. „I, da soll doch –“ er verschluckte den Rest des Donnerwetters, zerrte an seinem Flintenriemen und drückte sich den Hut mit der Spielhahnfeder fester in die Stirn.
Inzwischen war auch Margarete näher getreten. „Aber Reinhold,“ sagte sie vorwurfsvoll, „was hat Dir denn der Kleine gethan –“
„Der? Mir?“ unterbrach er sie höhnisch – die Kourage war ihm zurückgekehrt. „Na wirklich, das hätte noch gefehlt, daß uns die Leute aus dem Hinterhause auch noch direkt zu Leibe gingen! ... Sei Du nur erst ein paar Wochen hier, Grete, da wird es Dir gerade so gehen wie mir, da wirst Du Dich umgucken, Jungfer Weisheit! Wenn wir die Augen nicht offen halten, da wird bald kein Fleckchen mehr im Hause sein, wo der Bursche dort“ – er zeigte nach dem Knaben, der eben seinen Handkorb auf den Boden setzte, um den widerspenstigen Hund besser greifen zu können – „nicht Fuß faßt! ... Der Papa ist ganz unbegreiflich indolent und nachsichtig geworden. Er leidet’s, daß der Junge in unserem Hofe herumtollt und sich mit seinen Schreibeheften unter den Linden breit macht - auf unserem Lieblingsplatz, Grete, wo wir, seine eigenen Kinder, unsere Schularbeiten gemacht haben! Und vor ein paar Tagen habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie er ihm im Vorübergehen ein neues Buch auf den Tisch gelegt hat –“
„Neidhammel!“ brummte der Amtsrath unwillig.
„Denke was Du willst, Großpapa!“ platzte der sichtlich Erbitterte heraus. „Aber ich bin sparsam wie alle früheren Vertreter unserer Firma, und über hinausgeworfenes Geld kann ich mich wüthend ärgern. Man schenkt nicht auch noch Leuten, die Einem ohnehin auf der Tasche liegen. Jetzt, wo mir die Bücher vorliegen, jetzt weiß ich, daß der alte Lenz nie auch nur einen Pfennig Miethzins für das Packhaus gezahlt hat. Dabei ist er ein so langsamer Arbeiter, daß er kaum das Salz verdient. Er müßte nothwendig per Stück bezahlt werden, aber da giebt ihm der Papa jahraus, jahrein seine dreihundert Thaler, ganz einerlei, ob er auch nur einen Teller einliefert oder nicht, und das Geschäft hat den bittersten Schaden ... Ich sollte nur einen einzigen Tag die Macht haben, da sollte aber Ordnung werden, da würde aufgeräumt mit dem alten Schlendrian –“
„Na, dann ist’s ja ein wahres Glück, daß solche Grünschnäbel kuschen müssen, bis –“
„Ja, bis der Hauptsitz in der Schreibstube leer geworden ist,“ ergänzte der Kommerzienrath, der plötzlich dazwischen trat. Wahrscheinlicher Weise hatte er Schwiegervater und Tochter über den Hof her kommen sehen und sich schleunigst fertig gemacht, um den pünktlichen alten Herrn drunten nicht warten zu lassen. Er war im Jagdanzuge und mochte wohl im Herabkommen den größten Theil des Wortwechsels am Komptoirfenster mit angehört haben – es lag etwas Ungestümes in seinem plötzlichen Hervortreten, und Margarete sah, wie ihm beim Sprechen die Unterlippe nervös bebte. Er streifte übrigens das Fenster mit keinem Blicke, er zuckte nur die Achseln und sagte ganz obenhin, in fast jovialem Tone: „Leider hat diesen Hauptsitz der Papa noch inne, und da wird sich das sehr weise Söhnlein das Aufräumen für vielleicht noch recht lange Zeit vergehen lassen müssen.“
Damit reichte er begrüßend seinem Schwiegervater die Hand hin.
Das Fenster wurde geräuschlos zugedrückt. und gleich darauf hing der dunkle Wollvorhang so bewegungslos dahinter, als sei auch nicht der Schatten eines Menschen daran hingestrichen. Der junge Heißsporn mochte sich in Nummer Sicher hinter seinen Schreibtisch zurückgezogen haben.
Unterdessen war es dem Knaben gelungen, die eigenwillige Philine einzufangen; Tante Sophie, die eben mit einem Porcellankörbchen voll Gebäck aus der Wohnstube kam, hatte ihm geholfen, indem sie sich breit über den Weg gestellt. Nun klapperten seine kleinen Absätze die Stufen herab, auf einem Arme hatte er den Hund, und an den anderen hing er wieder seinen Korb – sein Gesichtchen sah ganz alterirt aus.
„Hast Du geweint, mein Kleiner?“ fragte der Kommerzienrath und bog sich zu ihm nieder. Margarete meinte, sie habe noch nie diese Stimme so weich und innig gehört, wie bei der theilnehmenden Frage, die dem sonst so kalt seinen Weg gehenden, vornehm zurückhaltenden Mann gleichsam entschlüpfte.
„Ich? – was denken Sie denn?“ entgegnete der Kleine. ganz beleidigt. „Ein richtiger Junge heult doch nicht!“
„Bravo! Recht so, mein Junge!“ lachte der Amtsrath überrascht auf. „Du bist ja ein Prachtkerl!“
Der Kommerzienrath ergriff den Hund, der alle Anstrengungen machte, sich zu befreien, und stellte ihn auf die Beine. „Er wird Dir schon nachlaufen, wenn Du über den Hof gehst,“ sagte er beruhigend zu dem Kinde. „Aber an Deiner Stelle würde ich mich doch schämen, mit dem Korbe über die Straße zu gehen;“ – er sah finster auf das Anhängsel an dem kleinen Arme, als ärgere er sich, die ideale Gestalt dadurch entstellt zu sehen – „für einen Gymnasiasten paßt das nicht – Deine Kameraden werden Dich auslachen.“
„O – das sollen sie nur probiren!“ Er wurde ganz roth im Gesicht und hob den schönen Kopf keck und energisch wie ein Kampfhähnchen. „Ich werde doch für meine Großmama Semmeln holen dürfen? Unsere Aufwartfrau ist krank, und die Großmama hat einen schlimmen Fuß, und wenn ich nicht gehe, da hat sie nichts zu ihrem Kaffee, und da frage ich viel nach den dummen Jungen!“
„Das ist hübsch von Dir, Max,“ sagte Tante Sophie. Sie nahm eine Handvoll Mandelgebäck aus ihrem Körbchen und reichte sie ihm hin.
Er sah freundlich zu ihr auf, aber er griff nicht zu. „Ich danke, ich danke sehr, Fräulein!“ sagte er und fuhr sich, selbst verlegen über seine Abweisung, mit der Hand in die Locken. „Aber wissen Sie, Süßes esse ich niemals – das ist nur für Mädchen!“
Der Amtsrath brach in ein lautes Gelächter aus, sein ganzes Gesicht strahlte, und plötzlich hob er das Kind sammt seinem Korb hoch vom Boden auf und küßte es herzhaft auf die blühende Wange. „Ja, der ist freilich aus einem anderen Holze! Sackerlot, das wär’ Einer nach meinem Sinn!“ rief er, indem er den Knaben wieder aus seinen gewaltigen, kraftvollen Händen entließ. „Wie kommt denn das kleine Weltwunder in die Rumpelkammer, in das alte Packhaus?“
„'S ist ein kleiner Franzose,“ sagte Tante Sophie. „Gelt, in Paris bist Du eigentlich zu Hause?“ fragte sie den Kleinen.
„Ja. Aber die Mama ist gestorben und –“
„Sieh doch – Deine Philine ist schon wieder echappirt!“ rief der Kommerzienrath. „Lauf’ ihr nach! Sie ist im Stande und rennt bis hinauf zu der alten Dame, die oben wohnt!“
Der Kleine sprang die Stufen hinauf.
„Ja, seine Eltern sollen beide gestorben sein,“ sagte Tante Sophie halblaut zu dem alten Herrn.
„Das ist ja aber gar nicht wahr!“ protestirte der Knabe von der Treppe herab. „Mein Papa ist nicht todt, nur weit fort, sagte die Mama immer – ich glaube, weit über dem Meer drüben.“
„Und sehnst Du Dich denn nicht nach ihm?“ fragte Margarete.
„Ich habe ihn ja doch noch niemals gesehen, den Papa,“ antwortete er halb trocken, halb im Ton naiver Verwunderung darüber, daß er sich nach Etwas sehnen sollte, wovon er keine Vorstellung hatte.
„Das ist ja eine närrische Geschichte! Den Teufel auch! Hm!“ brummte der Amtsrath fast betreten und schlenkerte die Finger der rechten Hand, als habe er sich an Etwas verbrannt. „Da ist er ja wohl gar von einer Lenz’schen Tochter?“
„Kann ich nicht sagen – so viel ich weiß, ist nur eine da,“ versetzte Tante Sophie. „Wie hat denn Deine Mutter geheißen, Jüngelchen?“
„Mama und Apolline hat sie geheißen,“ antwortete der Knabe kurz. Er war des Ausfragens sichtlich müde und strebte an den Umstehenden vorüber zu kommen. Philine hatte sich endlich bequemt, den richtigen Ausgang zu suchen, und war bellend in den Hof hinausgelaufen
„Nun springe aber, Kleiner!“ sagte der Kommerzienrath, der währenddem schweigend, aber mit einer Ungeduld zwischen Haus- und Hofthür hin- und hergegangen war, als brenne ihm der Boden unter den Sohlen, und fürchte er, etwas von seinem Jagdvergnügen einzubüßen. „Paß auf, Deine Semmeln kommen zu spät – der Kaffee wird längst getrunken sein!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_127.jpg&oldid=- (Version vom 22.1.2020)