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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

No. 9.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


An dem großen Kleiderschranke, der in Gretens Erinnerung eine so hervorragende Rolle spielte, steckte der Schlüssel, dem ein mächtiges Schlüsselbund anhing. Margarete öffnete die nur angelehnte Thür weiter und sah, daß Tante Sophie verschiedenes Geräth auf das obere Regal gestellt hatte, um es während der Zimmerrenovirung in Sicherheit zu wissen. An den Haken aber hingen die kostbaren Brokatschleppen der Urgroßmütter noch in Reih’ und Glied, wie sie es vor Jahren oft gesehen. Wie aus einem Tulpen- und Hyacinthenbeet flammten da alle starken Farben und dazwischen funkelte Gold- und Silbergewebe und schweres Borden- und Tressenwerk – ein bedeutendes, todtes Kapital, das die Pietät und der Stolz des alten Handelshauses unberührt im Schranke zerbröckeln ließen. Tief in der dunkelsten Ecke schimmerte auch ein Streifen der smaragdfarbenen Schleppe, in welcher sich die schöne Frau Dore hatte malen lassen. Margarete zog das köstliche Fundstück ans Tageslicht. Ja, Tante Sophie hatte Recht, wenn sie behauptete, in alten Zeiten habe man für sein Geld solider gekauft. Das echte Silber der eingewebten Blumen schimmerte, das Grün war vollkommen frisch und unverblichen, und nur in den Falten zeigte sich der dicke, starrende Seidenstoff etwas brüchig.

Es war ein enges, schmales Mieder, an welches das junge Herz der Frau Dore einst geklopft hatte. Margarete meinte, es müsse auch ihr selbst passen – und da hatte plötzlich „der Kindskopf der lustigen Gretel“ die Oberhand. Ganz nahe an der Wand lehnte auch ein hoher Pfeilerspiegel; er stand den Bildern gegenüber. Es schreckte die junge Uebermüthige nicht, daß es just die hohe, stolze Gestalt des Urgroßvaters Justus war, die der Spiegel zurückwarf. Sie löste das lange Kragenband vom Halse und band sich die Lockenfülle hoch über der Stirn zum Toupet. Die sternförmige Brosche und die dazu gehörigen Ohrringe und Manschettenknöpfe von böhmischen Granaten mußten die Rubinensterne vertreten, und für einen ersten flüchtigen Blick täuschten sie auch hinlänglich.

Es war doch wunderlich, daß die Natur noch einmal an Größe und schmächtigem Wuchs genau dieselbe Gestalt geschaffen hatte, wie sie vor fast einem Jahrhundert durch das Lamprecht’sche Haus gewandelt war. Das Mieder schmiegte sich glatt und faltenlos an den Leib des jungen Mädchens, und das silberstoffene Tablier des Rockes berührte gerade ihre Fußspitzen.

Sie erschrak vor sich selber, als sie die letzte Spange des Brustlatzes festgenestelt hatte und noch einmal vor den Spiegel trat. Sie sah auch ein wenig scheu zur Seite, wo neben ihrer Schulter die Augen des Justus Lamprecht aus dem Düster des Ganges glühten und seine beringte Hand so plastisch dort auf dem großen Folianten lag, als werde sie sich im nächsten Augenblicke von der Vermessenen herübergreifen ... Nun, die frevelhafte Maskerade sollte rasch ein Ende haben und in



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_141.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)
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