Verschiedene: Die Gartenlaube (1885) | |
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Er hob seine Hand mit den langen, dürren Fingern schüttelnd gegen das bei einander stehende Gesinde und wandte sich mit einem geringschätzenden Achselzucken von den Verblüfften ab.
„Der Spaß da drüben wird uns einen schönen Thaler Geld kosten,“ sagte er zu den Herren der Schreibstube, indem er mit dem Kopfe nach dem Packhause hinnickte. „Es ist unverantwortlich vom Papa, daß er die Hintergebäude so verfallen läßt. Mir passirt so etwas später einmal ganz gewiß nicht; mir entgeht kein verschobener Ziegel – darauf können Sie sich verlassen – und sollte ich auf allen Vieren in die Bodenecken kriechen und nachsehen! Ja, und“ – er verstummte plötzlich, schob die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich, die langen Beine vorstreckend, mit dem Rücken gegen die windgeschützte Flurwand – der Kommerzienrath kam eben über den Hof zurück.
Noch sah er tief alterirt aus, und sein sturmzerwühltes Haar, das ihm wild in die Stirn hing, verstärkte den Eindruck. Aber beim Erblicken des noch in dem Hausflur zusammenstehenden Menschentrupps nahm er sich sichtlich zusammen und reckte seine Gestalt zu ihrer ganzen Höhe empor. Sein Auge begegnete kalt abweisend den gespannten Blicken der Leute; es schien, als wolle er von vornherein jede Frage abwehren – das Sprechen mit seinen Untergebenen war ja überhaupt seine Sache nicht.
Er winkte dem Hausknecht, gab ihm ein Medicingläschen, welches er in der geballten Hand mitgebracht, und schickte ihn nach der Apotheke.
„Der alten Frau drüben hat der Schreck geschadet; sie ist sehr unwohl, und von dem helfenden Mittel war kein Tropfen mehr im Glase,“ sagte er kurz, fast barsch und doch wie verlegen entschuldigend zu Tante Sophie, und eine leichte Röthe lief über seine Stirn – es war ja nur ein kleiner Samariterdienst, eine selbstverständliche Hilfeleistung einem erkrankten Mitmenschen gegenüber, aber von Seiten des unnahbaren, hochmüthigen Mannes war und blieb es eine unbegreifliche Herablassung, und wie es schien, am meisten in seinen eigenen Augen.
Margarete machte es in diesem Augenblick wie vorhin Tante Sophie, sie band mit flinken Händen ein Tuch über den Kopf und ging schweigend nach der Hofthür.
„Wohinaus, Gretchen?“ fragte der Kommerzienrath und griff nach ihrem Arm.
Sie strebte nichtsdestoweniger weiter. „Ich will nach der kranken Frau sehen, wie es sich ja ganz von selbst versteht –“
„Das wirst Du bleiben lassen, mein Kind,“ sagte er gelassen und zog sie näher an sich. „Es versteht sich durchaus nicht von selbst, daß Du Dich um eines Krampfanfalles willen in die Gefahr begiebst, selbst schwer verletzt zu werden … Frau Lenz soll an derartigen Anfällen sehr oft leiden, und es ist noch Niemand im Vorderhause eingefallen, ihr beizustehen. Ein solches ‚Hinüber und Herüber‘ ist überhaupt nie Brauch bei uns gewesen, und ich wünsche durchaus nicht, daß darin etwas geändert werde.“
Bei diesem sehr bestimmt ausgesprochenen Wunsch und Willen löste Margarete schweigend die Tuchzipfel unter dem Kinn. Die Dienerschaft verschwand lautlos hinter verschiedenen Thüren, und die Herren zogen sich schleunigst in die Schreibstube zurück. Nur Reinhold blieb.
„Etsch, das geschieht Dir recht, Grete!“ machte er schadenfroh. „Ja, eine blaue Schürze vorbinden und in die armen Häuser gehen, um kranke Leute zu pflegen und schmutzige Kinder zu waschen, das ist jetzt so Mode bei den jungen Mädchen; und da denkst Du natürlich auch, wunder wie schön sich Grete Lamprecht als so eine heilige Elisabeth ausnehmen müßte! Es ist nur gut, daß der Papa solchen Unsinn nicht leidet! Und morgen hört auch die Gelegenheit zu solch abgeschmacktem Gethue von selbst auf, gelt, Papa? Die Leute können doch unmöglich im Packhause bleiben, wenn gebaut wird? Die müssen doch heraus?“
„Das ist nicht nöthig – die Leute bleiben, wo sie sind!“ versetzte der Kommerzienrath kurz, worauf sich Reinhold, die Hände tiefer in die Hosentaschen vergrabend und die hohen Schultern noch höher hebend, in wortlosem Aerger umdrehte und nach der Schreibstube ging.
Der Kommerzienrath legte seinen Arm um die Tochter und führte sie nach der Wohnstube. Er rief nach Wein, und die ersten Gläser des schweren Burgunders wurden hinabgestürzt, als bedürfe es der ganzen Feuergluth des Weines, um eine innere Stockung zu lösen.
Margarete setzte sich auf den Fenstertritt, auf den Platz zu Tante Sophiens Füßen, wo sie als Kind immer gesessen. Sie verschränkte die Arme um die Kniee und lehnte den Kopf an das Sitzpolster des Armstuhles … Sie war allein mit dem Papa. Inmitten dieser vier Wände war es heimlich und behaglich; vom Fensterbrett herab durchwürzten die Topfblumen die reine, sanfterwärmte Zimmerluft; die Uhr hatte sich durch den Aufruhr im Hause nicht irre machen lassen, sie tickte nach wie vor, und die Schritte des schweigend auf- und abgehenden, ganz in sich versunkenen Mannes hielten gleichmäßig Takt mit dem sachtgehenden Pendel. Aber draußen in den Lüften brauste es schauerlich; die Fenster klirrten, und dann und wann kam über den Markt her der Lärm zuschmetternder Hausthüren oder zurückgeschleuderter Fensterläden.
„Das wird schließlich noch den ganzen Dachstuhl vom Packhaus rütteln,“ sagte Margarete und hob den Kopf.
„Ja, es werden noch Ziegel in Menge herabfliegen, aber das Dachgerüst nicht!“ entgegnete der Kommerzienrath. „Ich habe auf dem Hausboden nachgesehen. Das alte Gebälk ist wie von Eisen, stark und festgefügt. Das, was zertrümmert im Hofe liegt, ist ein elendes Flickwerk neueren Datums gewesen.“
Er blieb einen Moment ihr zugewendet stehen, und das schon stark mit grauem Dämmern gemischte Tageslicht fiel auf seine Züge. Der Wein that seine Schuldigkeit; er machte das Blut wieder rasch durch die Adern kreisen und scheuchte die Schreckensblässe von Stirn und Wangen.
„Und der kleine Max ist wirklich heil und unversehrt geblieben?“ fragte die Tochter.
„Ja – das losgerissene Dachstück ist über ihn hinweggeschossen.“
„Ein wahres Wunder! Da möchte man so gerne glauben, daß sich zwei Hände behütend über den kleinen Lockenkopf gebreitet haben – die Hände seiner todten Mutter.“
Der Kommerzienrath schwieg. Er wandte sich weg und goß Wein in sein Glas.
„Ich kann den furchtbaren Eindruck nicht loswerden – mir zittern noch die Hände und Füße,“ setzte sie nach einem augenblicklichen Schweigen hinzu. „Zu denken, daß dieser schöne Junge voll Kraft und Leben plötzlich todt oder gräßlich verstümmelt unter den Balken und Scherben liegen könnte –“ sie brach ab und legte die Hand über die Augen.
Einen Augenblick blieb es still im Zimmer, so still, daß man ein erregtes Stimmengemurmel von der Küche herüber hören konnte.
„Unsere Leute können sich auch noch nicht beruhigen, wie es scheint,“ sagte Margarete. „Sie haben das Kind gern. – Der arme kleine Schelm! Er hat eine einsame Kindheit. Der deutsche Boden ist ihm fremd, die Mutter todt, und der Vater, den er nie gesehen hat, weit über dem Meer drüben –“
„Der Kleine ist nicht zu beklagen, er ist der Abgott seiner Angehörigen,“ warf der Kommerzienrath ein. Er stand noch abgewendet, hielt das Trinkglas gegen das Fensterlicht und prüfte den dunkelglühenden Inhalt; daher klang das, was er sagte, wie halbverweht.
„Auch der seines Vaters?“ fragte das junge Mädchen herb und zweifelnd. Sie schüttelte den Kopf. „Der scheint sich sehr wenig um das Kind zu kümmern. Warum hat er es nicht bei sich, wo sein Platz ist, wohin es von Gott und Rechtswegen gehört?“
Das gefüllte Glas wurde unberührt wieder auf den Tisch gestellt, und ein schattenhaftes Lächeln flog um die Lippen des nähertretenden Mannes.
„Da geht man wohl auch mit dem Papa schwer ins Gericht, der seine Tochter fünf Jahre lang von sich gegeben hat?“ fragte er immer noch lächelnd, aber mit jenem nervösen Zucken der Unterlippe, das bei ihm stets ein Merkmal innerer Bewegung war.
Sie sprang auf und schmiegte sich an ihn.
„Ach, das ist ja doch ganz etwas Anderes!“ protestirte sie lebhaft. „Deine wilde Hummel war Dir zu jeder Zeit erreichbar, und wie fleißig hast Du sie besucht und nach ihr gesehen! Du brauchst auch nur zu wünschen, und ich bleibe bei Dir, jetzt und für immer! Der Vater des kleinen Lenz aber –“
„Für immer?“ wiederholte der Kommerzienrath. Er ignorirte die letzten Worte und sprach laut und rasch. „‚Für immer‘? –
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_162.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2020)