Verschiedene: Die Gartenlaube (1885) | |
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„Ich bitte Dich um Gotteswillen,“ begann der Kleine wieder, „sieh Dir diese Gestalt an, diese Haube mit der ungeheuren Trauerschleife, dieses wunderliche Kleid mit einer Taille, die unter den Armen sitzt; und wie malerisch trägt sie den schwarzen Shawl; weiß der Himmel, sie hat einen rothen Parapluie! Goldsohn, den benutzt sie vermuthlich, um am ersten Mai auf Urlaub zu gehen, respektive zu reiten; brr – und das ist Deine einzige Gesellschaft!“
In der That, sie sah wunderlich aus, diese alte Frau, wie sie so voller Grandezza dahinwandelte, als sei eins der verblichenen Pastellbilder aus dem Gartensaal wieder lebendig geworden.
„Soll ich sie rufen?“ fragte lächelnd Franz Linden.
„Der Himmel bewahre uns!“ wehrte der Andere, „mir ist die Nähe des Blocksberges wirklich unheimlich, Dein Herr Wolff sieht aus wie Mephisto, und diese – nun, ich habe es eben angedeutet; sie ist eine peinliche Zugabe für Dich, Franz.“
Die wunderliche Frauengestalt war längst hinter den Büschen verschwunden, als der junge Mann endlich wie verloren antwortete: „Du siehst zu schwarz, Richard; in wiefern könnte dieses alte dem Grabe zuwankende Menschenkind lästig sein? Sie lebt förmlich verschollen in ihrem Erkerstübchen.“
„Nun, ich taxire sie darauf, daß sie Dich alle Augenblicke um etwas bitten wird; wenn sie friert, heizt der Ofen nicht gut, wenn sie Reißen hat, wirst Du ihr eine Katze schießen müssen; sie wird sich in Deine Angelegenheiten mengen, Deine Sachen verlegen und Dir zahllose kleine Verdrießlichkeiten bereiten. O, alte Tanten sind eigens dazu erfunden, ihre Mitmenschen zu quälen. Aber es schadet nichts, koche Du Dir nur einen recht großen Topf voll Zuckerguß und glasiere Alles damit. ’S wird nöthig sein. Ich glaube aber, Franz, es ist Zeit, der Kurierzug wartet nicht.“
Der Angeredete sah nach der Uhr, nickte mit dem Kopfe und ging eilig dem Hause zu, um das Anspannen zu bestellen.
Gedankenschwer folgte ihm der Freund; endlich stieß er ein halblautes „Donnerwetter!“ heraus. „So ein Bild von einem Jungen,“ raisonnirte er innerlich weiter, „soll hier Hungerpfoten saugen auf dieser Bauernklitsche? Was wird er überhaupt für eine Rolle spielen unter den reichen Grundbesitzern dieses gesegneten Landstriches? Hätte doch der Selige Gott weiß Wen zum Erben auserkoren, nur den nicht, soll sich’s auch noch zur Ehre schätzen! Was hätte er für Karrière machen können! Versauern und verbauern wird er hier, und diese – hole der Henker das ganze Niendorf! Hätte ich ihn nur wieder daheim im lustigen Frankfurt – O – es ist –“
Ein Viertelstündchen später saßen die Freunde in einem etwas altmodigen Gefährt und rollten der Kreisstadt zu. Hinter ihnen versank das stille Harzdörfchen und eine vielthürmige Stadt zeigte sich am Horizont ihren Blicken.
Allzu weit hatten sie nicht zu fahren, in Zeit einer Stunde war das Ziel erreicht, und der Wagen hielt vor dem stattlichen Bahnhofsgebäude. So schweigend wie sie gekommen, besorgten sie Billet und Gepäck, und erst auf dem Perron begann Linden zu sprechen.
„Grüß mir Frankfurt, Richard, und die Kollegen; schreibe mir auch einmal, wenn Du Zeit hast; sorge, daß ich meine Möbel und Bücher bald bekomme, und nun vielen Dank für Deine Begleitung nach hier!“
Der Amtsrichter machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Wollte Gott, ich könnte Dich mit zurücknehmen, Franz,“ sagte er beinahe weich, „Du glaubst nicht, wie Du mir fehlen wirst. Mit dem Schreiben ist das so so bei mir, Du kennst mich ja, Du bist fixer bei der Hand damit, wirst auch mehr Zeit haben –“
Das Pfeifen, das Rollen und Rasseln des heranbrausenden Kurierzuges schnitt ihm das Wort ab; er befand sich schon im nächsten Moment in einem Koupé.
„Adieu, Franz – komme noch einmal dicht heran, alter Junge – sieh, wenn Du in ernstlicher Verlegenheit bist, schreibe mir zuerst davon. Wenn ich auch selbst nicht in der Lage – Du weißt, meine Schwester ist in guter Assiette –“
Noch ein Händedruck, noch ein Blick in zwei ehrliche Männeraugen, und Franz Linden stand allein auf dem Bahnhofe. Langsam wandte er sich und schritt vom Perron hinunter seinem Wagen zu. Er hatte schon den Fuß auf dem Tritt, als er sich anders besann und dem Kutscher befahl im Hôtel auszuspannen, er habe in der Stadt zu thun.
Er war so völlig im Bann des unbehaglichen Gefühles, welches nach der Trennung von liebgewordenen Menschen das Herz erfüllt, daß er in keinesweges gehobener Stimmung die Straße zur Stadt hinabschritt. Am Eingange derselben bog er zur Seite und verfolgte einen menschenleeren Weg, der an der wohlerhaltenen alten Stadtmauer entlang führte. Wohin er wollte, wußte er selbst nicht; er hatte gar nichts hier zu suchen, er kannte keinen Menschen, aber er mußte sich doch etwas orientiren in seiner Nachbarstadt. Sie schien in der That ihren Ruf als alte deutsche Kaiserstadt zu rechtfertigen; trotzig lag das Schloß mit dem berühmten Dome auf steilem Fels; aus dem Gewirre rother spitzgiebliger Dächer ragte manch schlanker Kirchthurm empor, und wie ein fester Kranz umgaben noch heute Wall und Mauern die Altstadt, regelmäßig unterbrochen durch plumpe viereckige Wartthürme.
Er freute sich über das hübsche Bild; und wie er so dahin schritt, ließ seine Phantasie die prächtige Kaiserstadt aufwachen aus tausendjährigem Schlummer. Nach einem Weilchen blieb er stehen und sah zu einer der grauen Warten empor. „Wirklich, beinah wie das Eschenheimer Thor in Frankfurt,“ sagte er halblaut, „was für wunderliche Sprünge machen die Gedanken!“
Er befand sich plötzlich wieder mitten in der Gegenwart; noch vor kaum vier Wochen war er unter dem schönen Thor dahingegangen, ohne zu ahnen, daß er diesen Kollegen in Norddeutschland sobald schon begrüßen würde. Gleich einem Blitze aus heiterem Himmel war diese Erbschaft gekommen, die ihn zum Besitzer von Niendorf machte. Wie der alte Bruder seines Großvaters darauf verfallen, just ihn aus der ganzen zahlreichen Verwandtschaft zum Erben einzusetzen, es blieb fast ein Räthsel und ließ sich nur auf die besondere Zuneigung zu der Mutter des jungen Mannes zurückführen, die der alte Sonderling immer bevorzugt hatte.
Es war ihm aber beim Empfange der Nachricht gewesen, als falle ein goldener Regen in seinen Schoß; es lebt sich schlecht in einer Millionärstadt mit dem Einkommen eines Assessors. Und dann – er hatte in dem glänzenden verwirrenden Leben dort eine Herzenswunde empfangen, und die Narbe brannte zuweilen noch; das war, wenn an ihm eine elegante Equipage vorüberbrauste – schwarz die Pferde, schwarz mit Silber die Livréen und im mattgrauen Fond eine Frauengestalt, dunkle Straußfedern über dem marmorweißen Gesicht, goldigbraun der üppige Haarknoten im Nacken, und ach! so fremd ihn anblickend aus den großen blauen Augen. Er war dann verstimmt auf Tage nach solchem Begegnen. „Eine Modepuppe, ein herzloses Weib,“ nannte er sie bitter; aber er hatte doch einmal das Gegentheil geglaubt, ein ganzes Jahr lang, bis er eines Morgens ihre Verlobungsanzeigc in der Hand hielt. Sie heirathete einen Banquier, der ihr oft als Zielscheibe des Spottes gedient. Aber, mein Gott – er hatte eine Million!
Ja, wie gern war er gegangen aus ihrer Nähe, wie hatte er sich gefreut, das ganze Getriebe der großen Welt im Rücken zu haben, wie selig hatte er an die Mutter geschrieben, und was hatte er gefunden!
Aber gleichviel! Der Verwalter, den er vorläufig angenommen, schien ein tüchtiger Mensch; er selbst wollte sich in keiner Hinsicht schonen, und dann – Wolff. Er verstand wieder nicht, was Weishaupt an dem Manne auszusetzen fand.
Er wanderte schon längst durch belebte Gassen der Stadt; er hatte nach dem Hôtel gefragt, in dem sein Kutscher ausspannen wollte. Nun betrat er den Markt, in dessen Mitte der Roland steht. Ein stattliches Rathhaus im Renaissancestil erhob sich im Westen des Platzes, und ihm schlossen sich würdig hohe spitzgieblige Patricierhäuser an; einige mit Erkern geschmückt, einige stufenartig nach oben hinausgebaut, daß es aussah, als müßten sie das Uebergewicht bekommen. Nur zwei bis drei Gebäude waren neueren Ursprungs, und auch bei diesen hatte man sich augenscheinlich bemüht den mittelalterlichen Charakter festzuhalten.
Angenehm überrascht blieb Linden stehen, und sein Blick flog musternd über die Front des hohen Gebäudes, vor welchem er
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_339.jpg&oldid=- (Version vom 21.12.2020)