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Seite:Die Gartenlaube (1885) 382.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

ist, bei der keine Modelle mitwirken. Natürlich schafft die Phantasie nicht gerade aus nichts; aber wie sie aus einer Fülle von Eindrücken und Charakterbildern, die sie in sich aufgenommen, eine neue lebensvolle Gestalt hervorzaubert: das ist ein geheimnißvoller Proceß, den man erst ergründen kann, wenn man das A und O alles dichterischen Schaffens ergründet hat – das Genie.

Doch auch die zahlreichen Anhänger der Modelltheorie werden nicht behaupten, daß man ein Modell mit Haut und Haar in die Romandichtung aufnehmen darf. Es wird doch für die künstlerischen Zwecke zurecht gemacht, ganz wie der Maler, der ein Modell auf der Straße findet, es als Studienkopf portraitirt, aber dann für sein Gemälde nur einzelne Züge desselben, nur etwa die Augenbraue und die Augen, die Stirn und die Nase verwerthet, im Uebrigen die Physiognomie nach seinen künstlerischen Absichten ergänzt. Die Wahrheit spielt dabei gar keine Rolle, die Dichtung ist die Hauptsache. Es giebt zwar Autoren, welche ihre Modelle gleichsam lebend einfangen und dieselben so wie sie sind in ihre dichterischen Menageriekasten sperren; doch diese Sorte von Dichtern hat ihren Ruhm dahin. Nicht blos ihnen kann es indeß begegnen, daß ein solches „Modell“ sich selbst erkennt und dagegen protestirt, vor aller Welt zur Schau gestellt zu werden; auch die künstlerisch gestaltenden Romanschriftsteller, die nach Modellen arbeiten, sind nicht sicher davor, daß das Geschöpf sich gegen seinen Schöpfer auflehnt, daß sich irgend ein athmendes Wesen in der dichterischen Maske zu erkennen glaubt und gegen die Ausbeutung seines poor self für die Leihbibliotheken reklamirt: es tritt dies besonders dann ein, wenn die Aehnlichkeiten, die der Autor seinem Modell abgelauscht, größer sind, als die Unähnlichkeiten, die er in das Bild hineingeheimnißt hat. Vielen Modelldichtern sind schon derartige Unannehmlichkeiten passirt. Wenn freilich ein Romanautor so weit geht, wie Zola in „Pot-Bouille“, daß er sogar den Namen eines Juristen, der in dem Stadtviertel wohnt, wo sein Roman spielt, einem Charakter in demselben zueignet, so darf man sich nicht wundern, wenn er deßhalb einen Proceß verliert und genöthigt wird, seinen Justizbeamten umzutaufen: die vorsichtigeren Schriftsteller werden vielleicht einmal brieflich zur Rede gestellt, aber in einen solchen Proceß um „des Esels Schatten“ nicht verwickelt werden.

Neben dem freierfundenen socialen Roman haben wir aber auch einen zeithistorischen, und hier wird die Frage nach dem Verhältniß zwischen Wahrheit und Dichtung eine brennende; denn das Märchen braucht ein duftig Florgewebe, die Tagespolitik aber hat ein ganz unverschleiertes Gesicht. „Ein politisches Märchen“ erscheint als ein Widerspruch – und doch sind solche Märchen gedichtet worden. Ohne Frage gehört dazu der „Endymion“ jenes Lord Beaeonsfield, gegen dessen energische und großartige Politik die Krämer- und Quäkerpolitik Gladstone’s sehr in den Schatten tritt. Beaconsfield läßt weltgeschichtliche Charaktere in einer Draperie erscheinen, bei welcher die Geschichte zu kurz kommt, aber auch die Dichtnug wenig gewinnt, indem sie nur Räthsel aufgiebt, die sich nicht lösen lassen. „Prinz Napoleon“ erscheint in „Endymion“ als ein wahrer Märchenprinz; er ist es und ist es wieder nicht; die Gestalt läßt sich nicht festhalten; wenn sie es nicht ist, hat sie überhaupt keine Bedeutung; wenn sie es ist, so stimmen ihre Schicksale im Romane nicht mit ihren Lebensschicksalen. Beaconsfield liebt solche märchenhafte Arabesken für seine Zeitromane; doch sie geben kein ruhiges, sondern nur ein hin- und herzitterndes Bild. Der Scharfsinn der Leser will errathen und fühlt sich doch unbefriedigt durch die einzig mögliche halbe Lösung; deßhalb fehlt jenes Gefühl ruhiger Sicherheit, welches durch harmonische Kunstschöpfungen hervorgerufen wird und ohne welches ein reiner Kunstgenuß nicht denkbar ist.

Einer der talentvollsten neufranzösischen Romanschriftsteller, Alphonse Daudet, hat in ähnlicher Weise wie Beaconsfield das zeitgeschichtliche Märchen gepflegt; seine Helden sind Phantasiehelden, aber ihre Modelle kennt ganz Frankreich. Auch hier ein unlösbarer Widerspruch. Roumestan ist Gambetta, der schönrednerische Deputirte, der aller Welt alles Mögliche verspricht, ohne es je zu halten, ein Südländer von Kopf zu Fuß, der zuletzt der einflußreichste Mann in der Regierung Frankreichs wird; er ist Gambetta und ist es wieder nicht; denn Roumestan ist ja ein Legitimist, und Vieles, was er erlebt, paßt durchaus nicht auf das Modell Gambetta. Dennoch kennt man ja die tonangebenden Staatsmänner Frankreichs und weiß, da der Roman in der neuesten Zeit spielt, daß es keinen andern Politiker gegeben hat, der das Charakterbild Roumestan’s deckt. Dasselbe gilt von dem kaiserlichen Minister Rougon in Emile Zola’s großem Romancyklus; man kennt die Minister des dritten Napoleon; ein Rougon befindet sich nicht unter ihnen. Sollte aber Rouher dem Romandichter als Original vorgeschwebt haben, so decken sich wieder nur einzelne Züge, nicht das ganze Bild, weder der Charakter noch die Lebensschicksale. Wer ist der König Christoph von Illyrien in Daudet’s Roman „Die Könige im Exil“? Welcher Zauberspruch verwandelt ein österreichisches Kronland in ein selbständiges Königthum? Und das spielt alles in neuester Zeit: nicht blos die Abenteuer des entthronten Fürsten in Paris, sondern auch der Freischarenzug zur Wiedereroberung seines Thrones, der Kampf und die Niederlage desselben. Sollte man nicht glauben, eine Fee habe alle Zeitungsspalten verzaubert, daß lauter Märchen aus ihnen hervorquöllen, daß über alle Telegramme sich ein gespenstiger Flor legte, daß Namen und Thatsachen vor den Augen wie in einem Hexentanze vorüberwirbelten?

Doch neben diesem pseudonymen Zeitroman mit seinen Märchen und Räthseln giebt es einen andern, in dem schon bei Beginn der Handlung die Mitternachtsstunde geschlagen hat, in welcher die Personen ihre Masken abwerfen; freilich, die Gesichter, die dabei zum Vorschein kommen, sind trotzdem nicht immer die naturwahren, sondern sie sind oft wunderbar geschminkt und tätowirt: es ist dies der Zeitroman der Retcliffe und Samarow; da erschienen noch bei Lebzeiten der Helden die Napoleon und Garibaldi, da erscheinen noch jetzt die Bismarck und Keudell mit offenem Visir, werden mit ihrem vollen Namen eingeführt; da herrscht keine Geheimthuerei, keine Räthselfabrikation; Jedermann weiß, mit wem er’s zu thun hat; doch da tritt wieder ein anderer Mißstand ein. Der Dichter kann seine Personen nicht blos äußerlich photographiren; er muß sie doch auch sprechen lassen, und da legt er ihnen Worte in den Mund, die sie eben nicht gesprochen haben, die sie im besten Falle hätten sprechen können, aber auch jeden Augenblick Lügen strafen dürfen. Das ist keine Lage, in die ein Poet sich bringen darf; dergleichen paßt nur für einen Memoirenschreiber. Lebende Zeitgenossen eignen sich unbedingt nicht zu Romanfiguren. Solche Werke üben eine gewisse Anziehungskraft aus, wenn die Autoren genaue Kenntniß der Verhältnisse besitzen und aus dem Kabinet und aus der Schule plaudern; wenn sie in pikanter Weise Anekdoten zu erzählen und ein wenig den Kammerdiener der großen Herren zu spielen wissen. Das ist aber eine Wahrheit, die mit der Dichtung nichts gemein hat; die dichterische Erfindung kann dabei nur eine untergeordnete oder störende Rolle spielen.

Ganz anders verhält es sich mit dem geschichtlichen Roman und allen seinen Abarten: was der Vergangenheit angehört, gehört zugleich der Erinnerung und ist dadurch in ein dichterisches Licht gerückt. Die Aufzeichnungen der Geschichtschreiber, der Chronisten und Memoirenverfasser können nie erschöpfend sein; sie widersprechen sich oft, und schon die äußerliche Thatsache festzustellen, dazu gehört der Scharfsinn der Geschichtsforscher, und auch dieser Scharfsinn kommt nicht immer zu den gleiche Resultaten. Es giebt auch auf dem Gebiete der Wissenschaft genug geschichtliche Romane, und was früher für feststehende Wahrheit galt, wird von einer späteren Zeit als unhaltbare Erfindung nachgewiesen. Auch über die Motive, welche die Handlungsweise großer Männer bestimmten, herrscht oft Dunkelheit und Zweifel, ja vollständiger Widerspruch bei den gelehrten Fachmännern – wie verschieden nimmt sich das Bild Wallenstein’s aus in der Darstellung verschiedener und sehr gründlicher Geschichtsforscher! Ueber des Friedländers Charakter liegen sie ja in offener Fehde.

Es ist klar, daß, bei den eingeschränkten Grenzen der geschichtlichen Wahrheit, hier die Dichtung ihr Gebiet erweitern darf – und wo es den Tiefblick in geheime Beweggründe, in räthselhafte Falten geschichtlicher Charaktere gilt, da kann sie stets von neuem sich das Lob des alten griechischen Weisen vindiciren, daß sie philosophischer sei als die Geschichte; doch auch außerdem läßt ihr diese ein großes Feld frei, auf welchem die schöpferische Phantasie sich rückhaltlos tummeln darf.

So ist denn der historische Roman seit den Zeiten Walter Scott’s, der die anerkanntesten Vorbilder desselben geliefert hat, mit seiner Mischung von Wahrheit und Dichtung als legitimes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 382. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_382.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2021)
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