Verschiedene: Die Gartenlaube (1885) | |
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Der Pfarrer, der sich müde niedergelassen am Tische und den Kopf auf den Arm gestützt hatte, hob die Stirn von der Hand und seufzte:
„Ich habe meine Unmacht zu deutlich erkannt, um irgend einem Andern, wer es sei, zu wehren, seine Kraft in diesem Schrecken der Zeitlichkeit zu erproben. Gehe, Phöbe, wie der Vorsteher es wünscht. Wie Du willst, Veit! Dir mag es ein etwas ungewöhnliches Reise-Erlebniß sein.“
„Ich weiß es wie Du, Prudens Hahnemeyer, daß es zu den guten Werken gehört, die Todten zu begraben,“ sagte der Mann aus der Gesellschaft, und der Pfarrer nickte matt, ohne auf die leise Rüge in dem Tone des Jugendfreundes Acht zu geben.
„Es würde freilich auch kaum Geld genug, den Sarg zu bestellen, in dem Hause auf der Vierlingswiese sein, wenn Ihr mehr ausrichtetet als ich,“ sprach der Pastor weiter, als ob er nicht unterbrochen worden sei. „Sagte nicht der Vorsteher auch von einem Anerbieten Deinerseits in dieser Hinsicht? Ich würde das im Namen unserer Gemeinde annehmen können, wie – Dein freiwilliges Eintreten in diese Verhältnisse und Zustände überhaupt.“
„Jawohl, mit schönstem Danke soll er eintreten dürfen, der verehrte Herr!“ rief der Vorsteher. „Wenn er unsere Zustände und Verhältnisse hier oben bei dem Ackerboden und unter der Erde bei diesem Kümmerniß im Bergwerke besser kennte, würde er noch viel genauer wissen, wie nöthig wir’s haben, daß uns dann und wann Einer, und zumal in solchem Falle, mildthätig unter die Arme greift. Nun, auf den Herrn hier verlasse ich mich schon; er frißt es beim Räkel durch, und der Herr Physikus wird ja wohl auch bald herauf reiten, der mag dann den Todtenschein ausstellen – Herr Gott im Himmel, mit einer niederträchtigeren Last vom Herzen ab will ich noch niemals mit dem Tischler die nöthige Besprechung von wegen der nothwendigen sechs Bretter vorgenommen haben, als wenn der gnädige Herr hier und Fräulein Phöbe mit der Siegesfahne gewehet haben von der Vierlingswiese her!“
„Die Besprechung mit dem Meister Tischler würde ich im günstigen Falle doch lieber ebenfalls auf mich nehmen, Vorsteher,“ meinte Veit lächelnd. „Im, wie Sie sich ausdrücken, günstigen Falle gewinne ich doch gewissermaßen ein gewisses Bekanntschaftsrecht in hiesiger Gemeinde, und das möchte ich dann nach allen Seiten möglichst weit ausdehnen.“
„In meinem Anwesen sollen Sie mir höchlichst willkommen sein, liebster Herr,“ sagte der Vorsteher, und da er fürs Erste nichts mehr mit dem Pfarrhause zu besprechen hatte, nahm er seinen Abschied – kurz von dem Pastor, mit mehr Höflichkeit von dem Fräulein und aufs Allerhöflichste von dem „splendiden“ Fremden, der, wie kein Anderer, seit er, der Vorsteher, hier groß geworden war, in ähnlicher Weise sich ein „kurioses Reiseplaisir für sein Geld gemacht“ hatte.
„Dazu gehört auch die veränderte Welt da unten vor den Bergen, daß sie uns dergleichen Gesellschaft auf ihre Kosten herschickt, um sich so ihren Spaß bei uns zu gestatten,“ meinte er im Stillen. „Ein Jedes von Dem, was hier so im Sommer durchzieht, thäte es auch nicht; aber was uns selber da unten betrifft, als wie Amtsrath, Superdent, Salzinspektor, Doktor und Apteker, denen hätte ich ’mal mit dem Antrag kommen sollen, dem Räkel für seine Fee den Sarg auf sich zu nehmen! Zu so was muß man eben weit her sein!“ –
Sie saßen nun, da auch das doch sein Recht verlangte, um den Frühstückstisch; zwischen wortkarger Unterhaltung Jeder seine Gedanken für sich bewegend. Für Alle war es gewissermaßen eine Erleichterung, als der Landphysikus Doktor Hanff um die Kirchecke ritt, abstieg, seinen Gaul an den Pfarrgartenzaun band und das erste gleichmüthige Gesicht des Morgens zu dem tragischen Spiel mitbrachte. Zur gewohnten Stunde war er ins Dorf auf die Praxis gekommen, hatte Alles ziemlich wohl gefunden, aber jedes Haus voll von den Geschichten der Vierlingswiese.
„I, i,“ hatte er gesagt. „Na, da muß denn ’mal wieder der Doktor dran, Vorsteher. Aber mit den Herrschaften im Pastorenhause will ich vorher doch noch ein Wort reden, und wäre es auch nur, um mir diesen kuriosen zugereisten Begräbnißamateur etwas genauer auf seine Liebhaberei oder Generosität ansehen zu dürfen.“
So ließ er sich gemüthlich in der Laube des Pfarrgartens noch eine Tasse Kaffee gefallen und sah sich den Professor, Freiherrn Veit von Bielow etwas genauer an; aber auch Veit sagte sich bald: „Endlich aus dem laufenden Leben der Tage ein sogenannter vernünftiger Mensch!“ Somit gerieth auch er rasch in eine lebhafte Unterhaltung mit dem Arzte über das drängende Thema dieses Tages – den Räkel und seine Fee, und wie den Beiden am besten beizukommen sei. Eine Unterhaltung, in welcher der Doktor das letzte Wort behielt, indem er, fast um alle seine Jovialität gebracht, rief:
„Ich werde zuerst noch ’mal mit dem verrückten Kerl – wollte ich sagen, dem armen Teufel, Fräulein Phöbe, sprechen, und zwar Raison! Jedenfalls bitte ich vor Allem Sie, Herr Professor, aber auch Sie, gutes Kind, sich nicht eher von Neuem zu bemühen, bis ich mit meinem Resultate von der Wiese zurück bin. Meine gesundheitspolizeilichen Gründe brauche ich wohl nicht weiter anzudeuten, Pastor Hahnemeyer?“
Gordon in Khartum.
Im fernen Sudan, an der Grenze aller Civilisation, wo die Jagd auf den schwarzen Menschen ihre scheußlichen Triumphe feiert, in jenem unglücklichen Lande, dessen Völker seit Jahrhunderten unter der Vergewaltigung einheimischer und fremder Herrscher seufzen, hat sich im letzten Jahre ein blutiges Drama abgespielt, das uns jene Zeiten lebhaft in die Erinnerung zurückruft, in denen das Kreuz und der aufzeigende Halbmond um die Weltherrschaft stritten. Khartum am Nil war die Scene für den letzten Akt desselben; Gordon und Machdi waren die Helden, von deren Sieg oder Fall das Wohl oder Weh des Landes abhing.
Die Geschichte jenes Ringens ist noch heute in vielfaches Dunkel gehüllt. Fast ein Jahr lang dauerte die Belagerung, und über bange Wochen und Monate derselben fehlen uns wahrheitsgetreue Berichte; ungenaue Aussagen der Ueberläufer und Spione lassen uns nur schwache Einblicke in die Ereignisse gewinnen und tragen dazu bei, daß ein Kranz von Märchen und Sagen um die beiden Gegner sich immer enger zusammenzieht. Nur über die kurze Spanne vom 10. September bis zum 14. December 1884 sind in dem vor Kurzem in England veröffentlichten Tagebuche Gordon’s der Nachwelt authentische Nachrichten erhalten.
Es ist wohl eine seltene Erscheinung in der Weltgeschichte, daß der Krieger selbst unter dem Feuer der feindlichen Geschütze die Geschichte seiner Kämpfe niedergeschrieben hat, als ob er geahnt, daß er vor kommenden Geschlechtern sein eigener Anwalt werden müßte.
Diese seltsamen Aufzeichnungen wurden frühzeitig begonnen. Der muthige Begleiter Gordon’s, Oberst Stewart, schrieb sie anfangs nieder, wohl in Gemeinschaft mit seinem Befehlshaber, da Gordon über dieselben sagt: „Das Tagebuch Stewart’s ist ebenso gut mein Tagebuch wie sein eigenes.“ Diese Aufzeichnungen umfassen die Zeit von der Ankunft Gordon’s in Khartum bis zum 9. September, sind aber für die Welt so gut wie verloren, da sie in die Hand des Machdi gefallen sind. An jenem Tage verließ nämlich Stewart Khartum auf dem Dampfer „Abbas“, um nilabwärts Oberägypten zu erreichen und von dort einen wahrheitsgetreuen Bericht über die Zustände in der belagerten Stadt nach England zu depeschiren. Er gelangte auch glücklich über Berber hinaus, erlitt dann aber Schiffbruch und wurde mit allen seinen Begleitern bis auf den Koch, der sich flüchtete, von den Monassir-Arabern beim Landen meuchlings ermordet. So ging uns auch sein Tagebuch, das er mit sich führte, verloren.
Inzwischen setzte Gordon, auf die Entsatzarmee wartend, die Aufzeichnungen fort, und als die Kunde zu ihm gedrungen war, daß die britischen Truppen den Nil entlang sich Khartum näherten, sandte er denselben einige Dampfer entgegen, die dem
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 480. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_480.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2024)