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Seite:Die Gartenlaube (1885) 487.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Zwei der Insassen des Wagens sahen sich enttäuscht an, und der Amtsrichter suchte in der Brusttasche noch seinem Visitenkartenetui. „So!“ Er händigte der Dienerin die ungebogene Karte ein. „Und hier ist ein Brief, ein wichtiger Brief – verstehen Sie, Johanne? Empfehlen Sie mich, und ich wünschte gute Besserung.“

„Ich auch!“ sagte schüchtern das Fräulein.

Tante Rosa aber schwieg, und da man genauer hinsah, schlief sie, und das alte runzlige Gesichtchen wackelte seltsam über der großen Hutschleife.

„Borrmann, fahren Sie ja recht langsam, wenn wir in den Wald kommen,“ flüsterte der Amtsrichter, „Fräulein Rosa schläft.“ Und der Kutscher schnalzte mit der Zunge und fuhr auf dem weichen Graswege schier lautlos dahin; Johanne sah nur noch, daß der Herr Amtsrichter von der Mitte des Sitzes dem jungen Mädchen völlig gegenüber rückte und daß diese plötzlich so roth erglühte wie die Feder ihres Hütchens.

Johanne ging mit Brief und Karte ins Haus zurück und überreichte sie Trudchen.

„Einen Brief?“ fragte die junge Frau.

„Der Herr Amtsrichter gab ihn mir,“ erwiderte Johanne und verließ das Zimmer, in welchem, trotz der draußen herrschenden Wärme, eine feuchtkühle Luft wehte.

Trudchen öffnete langsam das Kouvert. Es war seine Handschrift; sie hatte es geahnt. Ein rasches banges Herzklopfen nahm ihr fast den Athem, und die Buchstaben flimmerten vor ihren Augen; es verging eine Weile, ehe sie lesen konnte:

 „Gertrud!
Gestern Abend ist Wolff gestorben. Es ist nicht mehr möglich, ihn auf Erden zur Rechenschaft zu ziehen, es ist nicht mehr moglich, seine Schuld aufzudecken. Er steigt ins Grab, ohne die Verleumdung von mir genommen zu haben. Ich bleibe als der vermeintliche Schuldige vor Dir stehen und kann weiter nichts thun, als noch einmal versichern, daß wir – Du und ich – die Opfer eines Schurken geworden sind. Ich habe nie mit Wolff über Dich, über Dein Vermögen verhandelt, noch seine Vermittelung angerufen.

Ich überlasse Dir und Deiner Einsicht das Weitere; zwingen zur Rückkehr werde ich Dich nicht, so wenig ich mich zu einer Scheidung zwingen lasse. Komm’, Gertrud, komm’ bald, und Alles soll vergessen sein. Das Haus ist öde, und die Herzen sind es noch mehr – fasse wieder Vertrauen.   Dein Franz.“

Sie war eben zu Ende mit dem Lesen dieser Worte, da trat Onkel Heinrich ein. Der kleine Herr hatte entschieden gut dinirt; er machte das lustigste Gesicht von der Welt.

„Noch immer hier?“ fragte er. Und als sie nicht antwortete, faßte er sie näher ins Auge – „nun, doch nicht schon wieder in Alteration?“

Aber die junge Frau wankte plötzlich, und Onkel Heinrich sprang noch gerade hinzu, um sie stützend zu halten und mit ängstlicher Stimme Johanne zu rufen. Sie legten die schlanke Gestalt in den Lehnstuhl und wuschen die Schläfen mit kaltem Wasser.

„So sprich doch, Kind!“ bat er, „so sprich doch!“ und daS wiederholte er, bis sie die Augen aufschlug.

„Ich kann nicht,“ sagte sie nach einer Weile.

„Was denn?“ fragte der asthmatische alte Herr.

„Zu ihm gehen! Ich kann nicht! Muß ich denn?“

„Barmherziger Gott,“ stöhnte Onkel Heinrich, „nimm doch Vernunft an! Freilich mußt Du, wenn Du ihn nicht verkommen lassen willst.“

„Ich muß?“ wiederholte sie, und wie zu ihrem Troste fügte sie hinzu: „nein, ich muß nicht! Ich kann mich nicht zwingen Vertrauen zu fassen, ich kann mich nicht verstellen. Nein, ich muß nicht!“ Und sie sprang auf und lief das Zimmer entlang bis zur Thür, bebend vor Aufregung.

„O, la la!“ Der alte Herr griff sich in die Haare. „So bleib! Laß Haus und Hof zu Grunde gehen und den Mann dazu, dem Du die Treue gelobt hast!“

„Ja, ja!“ flüsterte sie, „Du hast schon Recht, aber ich kann nicht!“ Und sie umfaßte in der Tasche die kleine Börse, in welcher das unselige Brieffragment steckte.

Es war, als ob diese Berührung ihr die völlige Besinnung wiedergab. Sie wurde still, schmiegte sich in den Sessel und lehnte den Kopf an die Polster.

„Verzeihe, Onkel – ich weiß, was ich thue.“

„Das weißt Du eben nicht!“ murmelte er.

„Doch!“ klang es trotzig zurück. „Oder meinst Du, ich müßte hinüber gehen und ihn mit gerungenen Händen bitten, mich in Gnaden wieder aufzunehmen?“ Und wie Hohn kräuselte es sich um ihre Lippen.

„Das Gescheiteste wär’s!“ erklärte Onkel Heinrich verdrießlich.

Sie beugte stolz den Kopf in den Nacken zurück. „Nein!“ kam es von ihren Lippen, „und wenn ich noch elender würde! Verzeihen kann ich, aber – hinkuschen wie – wie ein Hund – nein!“

„So soll mich Gott strafen, wenn aus Dir nicht der pure Hochmuth spricht,“ fuhr der alte Herr auf. „Wer giebt Dir ein Recht, Dich so weit über ihn zu stellen? Ein armer Kerl war er, der nicht freien konnte ohne Geld; ist es ein Verbrechen, daß er nach diesem Punkte gefragt? Bei jeder Prinzessin geschieht es. Lieblos bist Du und starr und ungerecht. Hast Du nie ein Unrecht gethan?“

Sie war schon bei den ersten zürnenden Worten zusammengefahren wie ein erschrecktes Kind, nun sprang sie auf, und als sie vor ihm niederkniete, sahen ihre Augen bittend zu ihm empor. „Onkel, weißt Du denn, wie ich ihn geliebt habe? Weißt Du denn, wie ein Weib lieben kann? Zu ihm aufgesehen habe ich, wie zu dem Edelsten auf der Welt, so hoch, so groß kam er mir vor. Zu seinen Füßen habe ich gelegen, und Abends habe ich die Hände gefaltet und Gott gedankt, daß Er mir diesen, gerade diesen Mann gegeben. Der Einzige, glaubte ich, wäre er, der nicht nur das reiche Mädchen in mir sah, und hundertmal hat er mir dies erzählt. Onkel, Du, Du bist immer allein gewesen, Du weißt nicht, wie sehr man lieben kann! Und dann hinunterzusteigen, einen gewöhnlichen Menschen vor sich zu sehen, Einen, der auch die Lüge nicht verschmäht – lieber todt, lieber todt!“ Und sie ließ seine Rechte und barg ihr Gesicht in den zitternden Händen. „Und da, wo das Glück gewesen, da soll ich mit der kargen Pflicht haushalten? Ich soll seine Frau sein, und ich weiß, daß nicht die Liebe ihn zu mir geführt? Ich soll ein zärtliches Wort hören, und nicht dabei denken: ‚Er meint’s nimmer so‘? Er sagt mir etwas, und ich zermartere mich in Zweifeln darüber, ob er es ehrlich meint? O, die Hölle kann nicht schrecklicher sein, denn ich hatte ihn lieb!“

Dem alten Herrn standen die Augen voll Wasser. Er strich verlegen über den schlichten Scheitel der jungen Frau.

„Steh auf, Trudchen,“ bat er leise; und nach einer Pause: „Man soll aber vergeben, sagt schon die Bibel.“

„Ja, von Herzen!“ flüsterte sie, „und wenn Du ihn siehst, so sage es ihm. Ach, und wenn er gekommen wäre und hätte gesprochen: ‚Verzeihe mir‘ – aber so –“

Dem Onkel Heinrich schoß ein Gedanke durch den Kopf. „Dann würdest Du nachgeben, gute Kleine?“ fragte er, „nicht wahr?“

„Ja!“ stammelte sie, „so schwer es auch ist.“

Der alte Egoist wußte, was er zu thun hatte. Er führte das weinende Trudchen zu ihrem kleinen Sofa, ließ sich von Johanne ein Glas Wein reichen und fuhr dann nach Niendorf. Er sah unterwegs immer das schöne thränenüberströmte Gesicht vor sich und hörte ihre klagende Stimme. Als er ziemlich hastig die Treppe zum Gartensaal emporstieg, erblickte er schon durch die Glasscheiben der Thür die kleine schwarze Adelheid neben dem Amtsrichter am Tische, der eben eine Weinflasche entkorkte. Beide waren so vertieft im Anblicken und Erröthen und wieder Anblicken, daß sie den alten Spion da draußen gar nicht gewahrten.

„Nun wahrhaftig, es sind auch Zeiten darnach in diesem Hause Bowlen zu machen,“ dachte Onkel Baumhagen. Er jagte das Paar beim Eintreten mit einen brummigen „guten Tag!“ in die nüchternste Wirklichkeit zurück, und der Herr Amtsrichter begann sogleich mit einem Lamento über das schauderhafte Pech, daß dieser Wolff ein halb jahr zu früh gestorben sei.

„Was ist denn hier los?“ fragte Onkel Heinrich dagegen und sog das Aroma der Waldbeeren ein.

„Die Abschiedsbowle für den Herrn Amtsrichter,“ erklärte Fräulein Adelheid.

„O, la la! Sie wollen fort?“

„Ich muß,“ erwiderte der Kleine mit einem bedauerlichen Blick zu dem jungen Mädchen. „Uebrigens, verehrter Herr, seitdem hier die frauenlose, die schreckliche Zeit angebrochen, ist es, gelinde gesagt, unheimlich in Niendorf. Linden ist seit der Todesnachricht gestern Abend so niedergeschlagen, als sei mit diesem Satanskerl sein Liebstes in die Grube gefahren. Weiß Gott, um einen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_487.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2024)
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