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Seite:Die Gartenlaube (1885) 543.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Unruhige Gäste.

Ein Roman aus der Gesellschaft.
Von Wilhelm Raabe.
(Fortsetzung.)
14.

Fräulein Valerie war wieder mal verschwunden; – wieder einmal „ihren Lieben abhanden gekommen,“ wie diese Lieben selbst, wenig besorgt, da sie das schon kannten, sich hierüber ausdrückten.

Ja, man kannte ihre Gepflogenheiten in dieser Hinsicht seit lange recht genau und ängstigte sich durchaus nicht um die verloren Gegangene. Auch Papa Excellenz zuckte nur die Achseln und sagte:

„Ich weiß wie immer von Euch Allen am wenigsten etwas Genaues. Sie soll ziemlich früh am Morgen ein hiesiges Edelroß sammt dem dazu gehörigen ortseingeborenen Pagen gemiethet haben und im Gebirge verschollen sein. Onkel Anton, im Grunde der einzige vernünftige Mensch und Frühaufsteher unter uns, behauptet, sie im Frühnebel jenseit des Thals und seines Promenadenweges am Bergeshang aufwärts reitend gesehen zu haben. Allein der Gute ist bekanntermaßen auch für einen vortragenden Rath im Kultusministerium (er hört uns doch nicht?) außergewöhnlich kurzsichtig und kann sich geirrt haben. Es sind bei einem solchen Menschenzusammenflusse immer einige eigenwillige, autoritätslose, närrische Frauenzimmer mehr vorhanden, als man im engsten Familienkreise und geselligen Cirkel für glaubhaft hält. Meine Maxime übrigens ist, mich in erster Instanz an das Nächstliegende zu halten, und so hatte ihre Kammerjungfer die Güte, mir die beruhigende Mittheilung zu machen: wohin dies gnädige Fräuleiu so früh uns ausgerückt sei, wisse sie nicht, aber jedenfalls (also jedenfalls nicht unwahrscheinlicherweise) werde man sich zur musikalischen Soiree am heutigen Abend wieder einfinden. Da habt Ihr den Inhalt meines Packets! Haben Sie eine Ahnung, können Sie uns nähere Mittheilung machen, wo das liebe Kind sich diesmal bei ‚die Hitze‘ eine Migraine zu holen wünscht, lieber Bielow? Sie hat, wie gewöhnlich bei unseren Begegnungen auf den Pfaden dieser Welt, so auch hier und jetzt mit ziemlicher Rücksichtslosigkeit Beschlag auf Ihre Veranlagung zur Geduld gelegt.“

Veit wußte keine Auskunft zu geben. Einem Gedanken, der ihm durch den Sinn schoß, hätte er unter keinen Umständen an dem heiter-behaglichen Frühstückstisch unter der Vorhalle des übervölkerten Hôtels Ausdruck geben können. Er wies denselben aber auch für sich selber von sich; denn die Tage waren hingegangen, und nichts ist so mächtig als die hinfließende Zeit, um der Menschen erregte Gemüther wieder auf das gewohnte Gleichmaß zu stimmen. Er schwamm schon wieder so mit im Strom, zumal da auch das Fräulein vollkommen ihre alte Tonart gegen ihn aufgenommen hatte.

Wir lassen ihn unter dem Geplauder und dem leichten Scherz der fröhlichen Sommertafelrunde und folgen jener bergaufführenden Spur der abhanden gekommenen Schönsten im Kreise.

Es verhielt sich in der That so wie die Gesellschaft es sich aus den Berichten Adolfines und des gelehrten myopischen Onkels Anton zusammengelegt hatte. Valerie hatte ein Roß und einen Knaben für diesen Tag gemiethet und war in die Berge gezogen, ohne Verwandte und Freunde vorher davon in Kenntniß zu setzen. Der gute Onkel Antonio hatte bei seiner frühen Brunnenpromenade diesmal ganz recht gesehen, als er jene lichte Gestalt auf dem Reitwege jenseit des Thals im ersten Morgensonnenschein gleiten sah und, die Brillengläser putzend, kopfschüttelnd brummte:

„Was hat der unruhige Gast, was hat das Mädchen nun wieder vor?“

Wir aber treffen diesen „unruhigen Gast“ erst um die Mittagszeit und zwar tief genug in den Wäldern und in sonderbarster Gesellschaft, – nämlich im eingehendsten Verkehr mit den Ueberbleibseln der Familie Fuchs, dem alten Räkel und seinen beiden Jungen.

Wenn Fräulein Valerie ausgezogen war, den Fuchs zu suchen, so konnte sie das nicht glücklicher treffen; denn es kam leider nur selten vor, daß Jemandem der Aufenthalt desselben in der Wildniß bei rechter Arbeit und am ordentlichen Tagewerk nachzuweisen war. Aber es verhielt sich diesmal wirklich so. Der Räkel hatte sich gleich am Tage nach dem Begräbniß seiner Fee beim Oberförster gemeldet und um Beschäftigung beim „Schneebruch“ gebeten. Und unter den Schneebruch- und Windfallhölzern des jüngstvergangenen Winters hatte er sich mit in die Reihe gestellt im Kampfe gegen die bitterböse „Wurmtrockniß“ und – man mußte ihm das lassen – seit einer Woche wie Drei geschafft gegen den Borkenkäfer.

Wie der Forst aussieht, wo der Sturm und Schneebruch gewirthschaftet haben und Bostrichus Typographus seine Wirthschaft anfängt, das weiß man wohl. Lieblicher wird die Gegend nicht dadurch. Was Wind und Schneewucht nicht gebrochen haben im Fichtenbestand, das schlägt die Axt so bald als möglich nieder. Geknickte und gefällte Stämme liegen dann im Wirrwarr durcheinander, todtes, staubig-harziges grauweißes Gezweig liegt zu hohen Haufen gethürmt. Die Berglehnen werden bloß; und Felsenfratzen, die der Wald seit hundert Jahren versteckte, grinsen wieder ins Tageslicht, hohnlachend hervor unter der Decke, die jetzt Menschenhand mit hastigster Eile fortschafft, um – größten Schaden durch den Wurm zu verhüten.

In einem derartig durch die letzten Winter zugerichteten Thalkessel hatte Volkmar Fuchs selber jetzt eine ganz ähnliche Hütte aufgerichtet wie die, welche ihm seine Dorfgemeinde auf der Vierlingswiese gebaut hatte. Aber sein Herdfeuer, an dem er nach seiner eigenen Kunst eine kuriose Kocherei übte, glimmte diesmal vor derselben unter einem vom Berghang vorstehenden Steinblock; und neben dem Feuer und Kessel war Fräulein Valerie zu einem Sitz eingeladen worden. Auch zu ihrem Theil an dem Inhalt des Kessels hatte der Räkel sie höflich genöthigt; aber für diese Höflichkeit hatte sie bis jetzt gedankt, obgleich die Sache gar so übel nicht roch, und der junge Begleiter dem Waldmann ganz verständnißvoll zunickte, mit der Zunge um die Mundwinkel leckte und mit dem Zeigefinger über die Lippen strich. Das Fräulein hatte sich mit einem Griff in ihre Kleidertasche und einiger Chokoladefabrikantenwaare begnügt, und nun saß sie inmitten dieser abenteuerlichen Tischgesellschaft, und obgleich die zärtlichen Verwandten und guten Freunde drunten im Thal und Aktienhôtel „Vieles von ihr gewohnt“ waren, so würde ihnen doch ein solcher „Exkurs ins Extravagante“, wie Papa sich vielleicht ausgedrückt hätte, als über das Maß des Gewöhnlichen hinausgehend erschienen sein, wenn ein Zauberspiegel ihnen plötzlich die Situation an die Wand ihres Salons geworfen hätte.

Als wir an diesem Tage das schöne Mädchen im wilden Forst, unter den Windfallhölzern auffinden, war die intimste Bekanntschaft mit der Familie Fuchs bereits gemacht, und hatte Fräulein Valerie dem Räkel seine Dorf-, Wald- und Welterlebnisse, seine Familiengeschichten so ziemlich abgehört. Wir treffen Volkmar mit dem Taschenmesser in der einen Faust und dem schwarzen Brotlaib in der andern ihr gegenüber bereits am letzten Ende der Unterhaltung.

„Ich hätte das Begängniß niemalen zugegeben ohne diesen Herrn, der auch Ihr guter Bekannter ist, wie Sie sagen, Fräulein. Jetzt wollen’s die Kanaillen im Dorf bloß auf den Doktor und die Gesundheit schieben, wie sie mich infam traktirt haben und die Frau mir haben eingehen lassen in der Einöde. Das Wildbrett, das Vieh gehört in das Dickicht, wenn es angeschossen ist oder sonst verkümmert. Der Mensch in seiner letzten Noth gehört hinter vier ordentliche Wände, und selbst wenn er keinen Groschen in der Tasche hat und am Wege gefunden ist. Mit ihrem öffentlichen Wohlsein! Als ob sie selber sich zum allgemeinen Besten, bei Regen und Sturmwind, auf die Vierlingswiese hinaus verfügten, wenn ihnen das Giftfieber in den Knochen brennt und ihnen die Haut auseinanderreißt?! Das war die Sache, daß ihnen eben der Räkel mit seiner Fee und seinen Jungen niemals und nirgends besser wohin paßte, als auf den Mist. Da war ihnen die Ordonnanz vom Doktor Hanff das rechte gefundene Fressen. Nicht Einer unter dem Volk, der nicht mit Vergnügen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_543.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2024)
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