Verschiedene: Die Gartenlaube (1885) | |
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Abwehren würde Dir aber auch heute so wenig helfen wie damals in unseren jüngern, gesundern Tagen, wenn ich als flotter Korpsbursch aus dem germanischen akademischen Leben zu Dir in Deine Klausur stieg, um Dich eine halbe Nacht durch mit Fragen, Bedenken und Citaten zu quälen. Und damit Du siehst, daß ich der Alte geblieben bin, trotz allem was Schicksal und Leben im Bösen wie im Guten an mir verübten, komme ich Dir auch jetzt mit einem Citat und zwar aus dem frivolsten Deiner in Gott ruhenden Amtsbrüder. Der sehr ehrwürdige Herr Lorenz Sterne, Magister der Künste, Stiftsherr zu York, Dorfpastor etc. hat das Wort im siebenten Buche von Tristram Shandy’s Leben und Meinungen. Ziehe Deine Kapuze so tief Du willst über den Kopf hinunter, aber laß mich abschreiben. Alles was Deiner Schwester und Dir Euer heutiger Besuch zuzutragen hat, wächst auf aus jenem leichtfertigen, inhaltvollsten Predigtbuch über Menschenschwächen und Menschenkräfte. Beiläufig, das Exemplar, aus dem ich abschreibe, entstammt närrischerweise der Reisebibliothek meiner Frau, welcher letztern ihr Herr Onkel aus dem Kultusministerium es am Abend unserer Abreise von Berlin in gewohnter Zerstreutheit ins Koupé warf. Sie behauptet, das einzig Angenehme, Liebenswürdige und Verständliche daraus, den Onkel Toby, schon längst zu kennen und zu citiren, überläßt mir aber alles Uebrige darin; – auch zur Mittheilung an Bekannte und – Freunde.
Sei dem so.
- ‚Ließ sich wohl jemals ein vernünftiger Mensch in einen so verworrenen Handel ein?‘ sagte der Tod.
- ‚Mit genauer Noth bist Du diesmal noch durchgekommen, Tristram,‘ sagte Eugenius.
- ‚Aber das ist kein Leben mehr, Eugenius, seit dieser Sündensohn dergestalt meine Adresse aufgespürt hat.‘
- ‚Da nanntest Du ihn jedenfalls bei dem rechten Namen,‘ sagte Eugenius; ‚denn die Sünde brachte ihn in die Welt, wie geschrieben steht.‘
- ‚Wie er hereinkam, kümmert mich nicht,‘ sagte ich, ‚wenn er nur nicht solche Eile hätte, mich heraus zu holen! denn ich habe noch vierzig Bände zu schreiben und vierzigtausend Dinge zu sagen und zu thun, die kein Anderer als ich in dieser Welt sagen und thun kann. Da er mich nun so bei der Kehle hat, thue ich da nicht besser, Reißaus zu nehmen und für mein Leben zu laufen? … Ja, beim Himmel, ich werde ihn in einen Tanz ziehen, daß er sich wundern soll! ohne mich umzusehen, jage ich bis an die Ufer der Garonne und höre ich ihn mir auf den Fersen klappern, so fliehe ich bis zum Vesuv, von da nach Joppe, und von Joppe bis an der Welt Ende, und wenn er mir dann noch folgt, na, so bitte ich Gott, daß er ihn den Hals brechen lasse.‘ –
Meine lieben Freunde, wie Ihr aus meiner Adresse dieses Briefes erseht, habe ich so ziemlich dem Wortlaut nach in Ausführung gebracht, was ein anderer lebensgieriger Siechling vor mehr als anderthalbhundert Jahren in seinem Abscheu vor dem Aufgebenmüssen des Mitathmens unter den Lebendigen zu thun sich vornahm. Ich habe meine Schätze zusammengerafft und bin gelaufen; nachdem ich die Angst des Träumenden, der nicht vorwärts kann, im Wachen vollauf durchgekostet habe. Ich hatte nimmer gewußt, daß mir das Leben so lieb sei, als bis ich kraftlos, knielahm, matt bis in das Mark der Knochen um es ringen mußte. Lebensgier! das ist das Wort. Ich habe bis jetzt keine Ahnung davon gehabt, wie lebensgierig der Mensch werden kann, wenn ihm einmal das alte dürre Gespenst so eisig aus dem warmen Sommer des Lebens in den Nacken blies. Nun aber habe ich das volle Empfinden; und ich schäme mich nicht, Jedem, der ein Interesse daran nehmen mag, davon zu reden. Ist es doch, als gehöre auch die Geschwätzigkeit ganz und gar zu diesem närrischen, ruhelos-müden Seelen- und Körperzustande.
Am Fuße des Vesuvs stellte mir das widerwärtige Gerippe noch einmal das Bein, und die Aerzte sagten: ‚Südwärts! vor dem nahenden Winter immer noch ein wenig weiter südwärts, Signore.‘ Und meine Frau sagte dasselbe, liebe, gute Freunde im nordischen Winter! und es gehört zu den fraglichen vierzig Büchern, die ich noch zu schreiben hätte, noch so manches Andere, was ich noch nicht aufgeben möchte unter Euch! Erst in Stimmungen, wie die meinige jetzt, lernt der Mensch zu rechnen und seine Verpflichtungen wie seine Behaglichkeiten zusammen zu zählen.
Von den einen darf ich, von den andern will ich noch nicht lassen; und – das Kofferpacken hat mir ja meine Valerie vom Anfang unserer jungen Ehe an abnehmen müssen. Wir wollen fürs Erste an nichts weiter als an Deine Gesundheit denken, Veit, sagte sie, und sie hat leider kaum nöthig, mir dieses noch besonders anzuempfehlen. Ich weiß und fühle es nur zu gut, wie zertrümmert meine Rüstung, wie unkräftig meine Hand, und wie machtlos, nutzlos jede Waffe geworden ist, auf die ich mich unter allen Umständen, in jedem Kampfe im Leben glaubte verlassen zu dürfen.
Ach Phöbe, Phöbe, welch ein Nebelheim-Schatten ist auf der Vierlingswiese über Deinen muntern Gast aus dem sonnigen Erdenleben gefallen! Wie schwer hängt die Erde, die der Clown, Euer Todtengräber unter der Felswand auf Eurem Dorfkirchhofe aufgeworfen hatte, an meinen Füßen!
Vor Jahren saß ich schon einmal an diesem Fenster im Hôtel Trinakria, mit dem Blick auf das tyrrhenische Meer, und zwischen jenen jungen, jubelvollen Tagen und der heutigen melancholischen Stunde liegt nur – ein Schritt vom Wege.
Unter diesem Fenster wogt heute wie damals, bei beginnender Abendkühle, das Leben des Kai Marina: Licht, Luft und Volk sind dieselben geblieben; aber wer – was ist heute Veit Bielow? Ist dies meine Hand, die hier die Feder führt? Was und wer ist dieses kränkliche, verdrießliche, ängstliche, weinerliche Etwas, das vor den aus Euerm Norden über die See herandringenden Abenddunst die Decken fröstelnd dichter um sich zusammenzieht?
Ja, Veit Bielow heißt der Mann, oder vielmehr das, was noch von jenem Mann, Veit Bielow genannt, übrig ist! Ja, Prudens und Phöbe Hahnemeyer, so hat ein Schritt vom Wege vor Euerm Dorfe Euern Freund und Gastfreund im inhaltvollsten Jahre seines Lebens an diesen unheimlichen Wendepunkt geführt. Gedenkt seiner mit mitleidigem, verzeihendem Herzen! Du vorzüglich, meine liebe, stille, im Frieden sichere Retterin, Phöbe!
Nun hat wohl schon der Winter an Eure Thür geklopft, der erste Schnee ist vielleicht schon bei Euch gefallen, die Berge sehen weiß herein, und der Sturm braust durch die Thäler und klappert mit meines armen gleichfalls fröstelnden Freundes Prudens Stubenfenstern. Ja, den armen Tom friert auch in dieser lauen südlichen Abendluft, – ich lächle nicht mehr über Dich, Freund Hahnemeyer; ich habe keinen Grund mehr, mich ob meiner Kraft zu überheben. Ach, Prudens, was für arme, schwache Erdengäste sind wir Beide zwischen dem Räkel in seiner Nacktheit auf der einen Seite und Deiner und – meiner Schwester in ihrem unnahbaren Burg- und Gottesfrieden auf der andern! Unter meinen sonstigen guten Bekannten weiß ich Niemand, dem ich über diese kläglichen kuriosen Stimmungen so schreiben könnte, wie jetzt Dir, mein alter mönchischer Leidensgenoß hinter Deinen Mauern, den wankenden, abbröckelnden Mauern auch Deiner Lebensveste. Ich bin zu einem Grübler geworden wie andere brave Leute, habe meine eigene Seele auf den Secirtisch genommen, und denke nur an mich, Freund Prudens, wenn ich frage: Wird das noch einmal für uns anders werden? O ja, was für ein Egoismus in dem Menschen steckt, erfährt er erst genau nach solch einem Schritt vom Wege und so mit dem Zerlegemesser in der Hand am Werke an seinem eigensten Selbst.
Werden kommende Jahre den armen Veit wieder auf die muntern Füße stellen, auf denen er einst, vor hundert Jahren – vor so wenig Wochen über die Vierlingswiese schritt? Wird er sich noch einmal von Palermo, von ‚Joppe‘ nach einem Schneesturm, wie er um diese Jahreszeit um solch ein nordisches Gebirgshaus gleich dem Eurigen bereits lärmen mag, nicht bloß matt sehnen dürfen?
Was kümmert Einen, der leben – leben – leben will, das, was die Andren wollen? Was geht mich Dein Gedanken- und Vorstellungskreis an, mein armer entsagender und in seiner Enthaltsamkeit auch verunglückter Freund, Prudens Hahnemeyer? Die Stadt Palermo rauscht um mich her, das gesunde, weite, freie Meer dehnt sich vor meinen Blicken; mein gesundes, schönes, junges Weib läßt im Nebensalon die Finger über das Piano gleiten: wie könnte ich mit Gleichmuth, mit Achselzucken mich an den furchtbaren Handel in der Todeshütte auf der Vierlingswiese, an meinen Grundbesitz unter der Felswand neben dem Hügel der Fee erinnern?!
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_623.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2024)