verschiedene: Die Gartenlaube (1886) | |
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es, daß er mein Großvater ist, und hat mich so behandelt! Wie einen Hund, den man mit dem Fuße fortstößt! Hochwürden, das hätten Sie mir nicht sagen sollen, das nicht! Ich habe den Grafen gehaßt, weil er hart und erbarmungslos war gegen einen Fremden, jetzt aber, jetzt möchte ich ihn –“
Er ballte die Hände mit einem so furchtbaren Ausdruck, daß Valentin entsetzt zurückwich.
„Um aller Heiligen willen, Du willst doch nicht –?“
„Ihn anrühren – nein! Ich weiß es ja nun, daß ich nicht die Hand gegen ihn heben darf, aber könnte ich auf andere Weise mit ihm abrechnen, mein Leben gäbe ich darum.“
Valentin stand sprachlos da, aber es war nicht dieser jähe Ausbruch allein, der ihn verstummen machte. Er sah jetzt auch, was seinem Bruder damals so aufgefallen war, jenes seltsame Aufflammen, das plötzlich, blitzähnlich hervorbrach, um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden. Es waren noch dieselben unschönen, unentwickelten Züge, aber das „Traumgesicht“ war es nicht mehr: als sei ein Schleier gelüftet worden, so zeigten sich auf einmal eine ganz andere Stirn und ganz andere Augen, und die Bewegung, mit der sich Michael jetzt nach der Thür wandte, hatte etwas von wilder Energie.
„Wo willst Du hin?“ fragte der Pfarrer hastig. „Nach der Försterei?“
„Nein, da habe ich nichts mehr zu suchen, jetzt vollends nicht mehr – Leben Sie wohl, Hochwürden!“
„Bleib! Wohin denn sonst?“
„Ich weiß nicht – fort – in die weite Welt!“
„Allein? Ohne Hilfsmittel, in vollster Unbekanntschaft mit der Welt und dem Leben? Was willst Du dort?“
„Zu Grunde gehen – wie meine Mutter!“ sagte Michael herb.
„Nein, beim Himmel, das sollst Du nicht!“ rief der Priester, sich mit ungewohnter Energie aufrichtend. „Wenn mir auch das Gelübde die Hände bindet, wenn ich nicht für Dich sorgen kann, so kann ich die Sorge doch in die Hände eines Anderen legen. Es war ein Wink der Vorsehung, der meinen Bruder gerade jetzt herführte, er wird mir seine Hilfe nicht versagen, darauf kenne ich ihn.“
Michael schüttelte finster abwehrend den Kopf.
„Lassen Sie mich gehen, Hochwürden, ich bin es ja gewohnt, überall mißhandelt und fortgestoßen zu werden, ich mag keinem Fremden zur Last fallen. Viel ärger kann es da draußen auch nicht zugehen, als bei meinen Eltern, ich weiß das noch von meiner Kinderzeit her. Ein gutes Wort haben wir nie von dem Vater gehört, ich und die Mutter, aber geschlagen hat er uns Beide oft genug – es war nicht viel anders, als später in der Försterei, nur daß ich da nicht mehr zu hungern brauchte.“
Valentin schauderte zusammen, er mochte an die Frau denken, die er einst im vollen Glanze der Schönheit und des Glückes gekannt hatte. Das also war das Ende gewesen? Ein grauenvoller Blick in die Tiefe menschlichen Elendes!
„Du gehst nicht, Michael,“ sagte er mild, aber mit voller Bestimmtheit. „Von Deiner Rückkehr nach der Försterei kann allerdings keine Rede mehr sein, Du bleibst einstweilen hier, bis die Antwort meines Bruders eingetroffen ist, ich weiß es freilich im Voraus, wie sie lautet, und so lange stehst Du unter meinem Schutze.“
Michael widersprach nicht mehr und machte auch keinen Versuch mehr, zu gehen. Stumm und finster kehrte er zurück, trat an das Fenster und blickte mit verschränkten Armen hinaus, aber auf seinem Gesichte lag noch dieselbe trotzige Energie, mit der er vorhin fortstürmen wollte. Ja wohl, der Nachtwandler war aufgewacht, als man ihn beim Namen rief, aber es war ein herber Ruf gewesen und ein bitteres Erwachen!
Aus dem dichten Morgennebel war ein goldig klarer Herbsttag emporgestiegen, der die Berge entschleierte und die Thäler mit hellem Sonnenschein erfüllte.
Die kleine Bergstadt, die, etwa eine Stunde von Schloß Steinrück entfernt, malerisch am Eingange des Thales lag, beherbergte augenblicklich einen berühmten Gast. Professor Hans Wehlau, dessen Ruf längst über die wissenschaftlichen Kreise hinausgedrungen und aller Welt bekannt war, befand sich zum Besuch bei seinem Schwager, dem Bürgermeister des Städtchens. Der Professor lebte seit zehn Jahren in der Hauptstadt Norddeutschlands, wo er an der Universität eine hervorragende Stellung einnahm. Seit dem Tode seiner Frau hatte er sich einigermaßen von der Gesellschaft zurückgezogen, zumal auch seine beiden Söhne durch ihre Berufspflichten fern gehalten wurden, der jüngere vollendete das Studium der Naturwissenschaften, das er unter der Leitung des Vaters begonnen hatte, auf einer andern Universität, und der ältere – eigentlich nur ein Adoptivsohn, das Kind eines früh verstorbenen Jugendfreundes – hatte die militärische Laufbahn erwählt und stand mit seinem Regimente in einer Provinzialstadt. Den Ausflug in die Berge und zu den Verwandten hatte man aber gemeinschaftlich geplant. Der Professor befand sich schon seit einigen Wochen dort, und seine Söhne waren gestern eingetroffen.
Das stattliche und geräumige Haus des Bürgermeisters lag am Marktplatze, und die oberen Räume desselben, die für gewöhnlich nicht benutzt wurden, waren den Gästen zur Verfügung gestellt worden. Die Frau Bürgermeisterin that das Möglichste, dem Gatten ihrer verstorbenen Schwester den Aufenthalt angenehm zu machen, und das war um so anerkennenswerther, als sie eigentlich mit ihm auf dem Kriegsfuße stand. Sie schwankte fortwährend zwischen dem Respekt vor seiner Berühmtheit, die ihr bei der nahen Verwandtschaft sehr schmeichelhaft war, und dem Abscheu vor der „gottlosen“ naturwissenschaftlichen Lehre, der er diese Berühmtheit verdankte, und es war ihr größter Kummer, daß ihr Neffe, den sie bei dem Mangel eigener Kinder wie einen Sohn liebte, sich auf Befehl des Vaters gleichfalls dieser Lehre hatte zuwenden müssen.
Es war in den Morgenstunden, der Professor stand am Fenster seines Zimmers und blickte hinaus auf den stillen Marktplatz. Wehlau hatte sich in dem verflossenen Jahrzehnt nur wenig verändert, es war noch dasselbe geistvolle Gesicht mit dem sarkastischen Zuge und den durchdringenden Augen, nur das Haar war grau geworden. Neben ihm stand die Frau Bürgermeisterin, eine stattliche Erscheinung, der die bösen Zungen von Tannberg allerdings nachsagten, daß sie ihrerseits den regierenden Herrn Bürgermeister regiere und unbedingt die erste Stimme in ihrem Hause habe.
„Also unsere Buben wären nun glücklich da!“ sagte der Professor in offenbar sehr behaglicher Stimmung. „Da wird es bei Euch Lärm und Unruhe genug geben, denn der Hans stellt das Haus sicher wieder auf den Kopf, Du kennst ihn ja. Uebrigens sehen sie Beide ganz stattlich aus, Michael besonders hat schon ein echt männliches Aussehen.“
„Hans ist viel hübscher und auch viel liebenswürdiger,“ sagte die Dame in sehr bestimmtem Tone. „Michael hat überhaupt nichts von diesen beiden Eigenschaften.“
„Zugestanden, wenigstens für Euch Frauen! Dafür besitzt er aber einen Ernst und eine Tüchtigkeit, an denen sich unser Sausewind ein Beispiel nehmen könnte. Es ist keine geringe Auszeichnung für einen so jungen Officier, zur Dienstleistung beim Generalstabe kommandirt zu werden. Er überraschte mich erst bei seiner Ankunft mit der Neuigkeit, Hans dagegen wird wohl nur mit genauer Noth seinen Doktor fertig bringen.“
„Das ist nicht die Schuld des armen Buben,“ vertheidigte die Frau Bürgermeisterin. „Er ist ja von jeher nur mit halbem Herzen bei dem erzwungenen Berufe gewesen. Es hat meiner Schwester damals manche heimliche Thräne gekostet, als Du ihn so unerbittlich zwangst, sein schönes Talent zu begraben.“
„Und Dir ganze Thränenströme!“ spottete der Professor. „Ihr habt mir damals das Leben schwer genug gemacht, Ihr waret ja allesammt im Komplott mit dem Jungen, bis ich endlich ein Machtwort sprach, dem er sich wohl oder übel fügen mußte.“
„Mit Verzweiflung im Herzen! Du hast ihm mit seinem Künstlertraum auch das Ideal und die Poesie seines Lebens genommen.“
„Bleib’ mir vom Leibe mit der Poesie!“ unterbrach Wehlau sie. „Mit der Dame stehe ich auf sehr gespanntem Fuße, weil sie meistentheils nur Unheil anrichtet und den Leuten die Köpfe verdreht. Ich habe meinem Herrn Sohn den seinigen noch zeitig genug zurechtgesetzt. Von Verzweiflung habe ich übrigens nie etwas bei ihm gespürt, der hat überhaupt gar kein Talent zum Verzweifeln.“
„Guten Morgen, Papa!“ rief eine helle Stimme, und der Gegenstand des Gespräches erschien in der Thür.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_463.jpg&oldid=- (Version vom 19.7.2021)