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Seite:Die Gartenlaube (1888) 008.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Wie Berge und Erdbeben entstehen.
Von M. Wilhelm Meyer.


Die Erde bebt! Der Ausruf schließt den Schrecken aller Schrecken in sich. Vor allen anderen entfesselten Naturgewalten giebt es ein Entfliehen, oder Vorbeugungsmittel, Anzeichen, welche der Katastrophe vorangehen; man kennt ihre Ursachen und fürchtet deßhalb ihre Wirkung, so entsetzlich sie auch oftmals auftreten mag, nicht so sehr wie die dämonische Gewalt, welche den Erdboden, auf dem wir in sicherer Zuversicht unsere Häuser, unser Glück und unsere Hoffnungen bauen, aufwogen läßt wie ein sturmgepeitschtes Meer, klaffende Wunden in das Erdreich reißt, Gebirge aufwirft und Feuerschlünde, die mit glühenden Lavaströmen, erstickendem Aschenregen und siedendem Wasser die Landschaft überfluthen, über welcher eben noch ein hoffnungsstrahlender Himmel, lachender Sonnenschein lag. Das beständige Donnerrollen unter und über der Erde, der Sturm und die grellen Blitze, welche die plötzlich hereingebrochene Nacht schrecklich aufhellen, sind kaum noch im Stande die Todesangst zu erhöhen, welche bei solchen Paroxysmen der Natur auch den Muthigsten ergreift. Wohin sollen wir uns retten, da wir nicht dem Erdboden entfliehen können, welcher die unveräußerlichste seiner Eigenschaften, seine Unbeweglichkeit, plötzlich verloren hat? Uns ist, als müßten nun alle Grundbegriffe der Dinge, welche uns nie widerlegte Erfahrungen seit dem Tage unserer Geburt einimpften, schwinden und sich in ihr sinnverwirrendes Gegentheil umwandeln, als müßte nun das Feuer uns frösteln machen, das Eis brennen, die Luft zu Stein werden und das Wasser sich in trockenen Sand verwandeln, der den Berg emporströmt. Denn das sind keine unerhörteren Widersprüche in sich selbst, als den starren Fels in wogender Bewegung zu sehen. Die sonst so liebevolle Natur ist plötzlich in Vernichtungswahnsinn verfallen. Wir sind derselben gänzlich willenlos ausgeliefert.

Was Wunder, daß kein Naturereigniß so nachhaltig im Stande ist, das menschliche Gemüth in Erregung zu erhalten, ja verhängnißvoll bloß durch den allgemeinen Schrecken zu zerrütten! So erzählt ein Arzt, der nach dem furchtbaren Erdbeben auf Chios im April 1880, durch welches über 3500 Menschen getödtet wurden, Hilfe bringend das verwüstete Land durchreiste, daß der größte Theil des jungen weiblichen Geschlechtes nach dem Beginne der Erdbeben in Folge der Gemüthsbewegungen an Epilepsie erkrankte.

„Wenn ein Menschenkenner,“ so schreibt jener Arzt, „jetzt diese elenden, mehr bläulich als röthlich gefärbten Antlitze erblickt, so muß ihn Wunder nehmen, daß Furcht und Schrecken eine solche Verwandlung bewirken können.“

Hört man indeß vom den Einzelheiten solcher furchtbaren Ereignisse auch nur erzählen, so begreift man wohl die grauenhafte Furcht, welche das Geschehene den Ueberlebenden einflößen mußte. Man höre nur die folgenden Berichte aus dem großen Erdbeben von Lissabon, dem Ereigniß eines Augenblickes, welches die Gemüther aller Menschen in Europa während des ganzen Verlaufes der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts (das Erdbeben fand am 1. November 1755 statt) ebenso nachhaltig zu erregen und immer wieder zu beschäftigen vermochte, wie alle Schrecken der französischen Revolution.

Der erste fürchterliche Stoß war erfolgt, welcher in wenigen Sekunden die ganze, eine halbe Million Einwohner zählende Stadt in Trümmer legte und dessen die Grundfesten Europas erschütternde Wirkung bis hinauf nach Schweden und dem westlichen Rußland verspürt wurde. Was sich retten konnte, stürzte zum Meere, an dessen Ufer ein neuerdings aus Marmor aufgeführter Quai entlang lief, woran viele Schiffe vor Anker lagen. Plötzlich that sich eine gräßliche Kluft unter diesen Hunderten unglückseliger Menschen auf und verschlang sie alle in einem einzigen Augenblick mit sammt dem Quaigemäuer und allen Schiffen, die daran ankerten. Nie ist eine Spur wieder davon zum Vorschein gekommen. Wo die Mauer stand, fand man später unter dem Meere den Grund erst bei 600 Fuß Tiefe. Gleich nach der Katastrophe schäumte das Meer furchtbar auf und eine ungeheuere Woge stürmte über die zertrümmerte Stadt hin. Sie allein soll nach dem Erdbeben noch 60 000 Menschen mit sich fort in den Meeresgrund gerissen haben.

Kein Ort auf der weiten Erde ist vor Erdbeben sicher; denn es giebt keinen Fleck auf derselben, welcher nicht schon einmal durch diese geheimnißvollen Gewalten der Tiefe erschüttert worden wäre, und an jedem Tage, ja zu jeder Stunde erbebt die Erde irgendwo auf ihrem Umkreise; keinen Augenblick lang rastet der Dämon der Verwüstung unter unseren Füßen. Oft wüthet er, sobald er einmal sein dunkles Werk begonnen, Monate, selbst Jahre lang in denselben Erdgegenden. So dauerte das Erdbeben in der griechischen Provinz Phokis vom 1. August 1870 bis zu demselben Monat im Jahre 1873 fort, und es wurden in dieser Zeit dort von Schmidt, dem unlängst verstorbenen Direktor der Sternwarte von Athen, nicht weniger als 35 sehr starke Stöße und 300 bis 320 schwere Erdbeben, die stattgefunden hatten, verzeichnet. Ja in den ersten drei Tagen soll buchstäblich die Erde fortwährend gebebt haben, so daß vermutlich 29 000 größere oder kleinere Stöße in dieser kurzen Zeit erfolgt sind. An anderen Orten hört die Erde überhaupt fast niemals auf zu beben. Namentlich ist in dieser Hinsicht Centralamerika berüchtigt, von welchem man einen gewissen Theil „die Hängematte“ nennt: so schaukelt dort der Erdboden beständig hin und her. Die Einwohner dieser Länderstrecken haben ihr Leben von vornherein darauf eingerichtet. Sie leben in niederen Rohrhütten, die keinen erheblichen Schaden anrichten können, wenn sie einmal bei Nacht über ihnen zusammenstürzen.

Was ist die Ursache dieser schrecklichen Kundgebungen aus dem Innern unseres Planeten? Wo ist die Kraft zu finden, welche Berge versetzt in einem Augenblicke und Erdschollen vom Umfange ganzer Königreiche hin- und herrüttelt, sowie wir es etwa mit einem am Wege liegenden Baustein zu thun im Stande sind? Wie begreiflich ist es, daß die geängstigte Menschheit diese Fragen aufwirft, daß sie verzweifelt von der Wissenschaft die Lösung verlangt. Denn obgleich wir wohl wissen, daß wir ewig machtlos dieser ungeheuerlichsten aller Elementarmächte gegenüber stehen werden, so wissen wir doch aus vielfacher Erfahrung, daß die Kenntniß der Ursachen unseres Verderbens die Angst mildert, weil sie die Hoffnung auf irgend einen Ausweg oder ein Schutzmittel, und sei es auch von höchst problematischer Natur, gewährt, das unsere Sinne wenigstens zeitweilig beruhigt. Aber wie begreiflich ist es auch, daß wir noch so wenig unbedingt Zuverlässiges über diese Ursachen wissen, wie rastlos auch die Schar der Forscher am Werke thätig sein mag!

Die Gewalt, welche die Erde über so ungemein große Gebiete hin erschüttern kann, muß offenbar aus den tiefsten Tiefen des Planeten hervorbrechen. Genaue Untersuchungen einiger in neuerer Zeit stattgehabter, verhältnißmäßig unbedeutender Erdbeben, welche in Mitteleuropa stattfanden und deshalb vielseitig beobachtet werden konnten, haben ergeben, daß der Stoß, welcher die Erschütterung hervorbringt, nicht unter einer geographischen Meile, in einem einzelnen Falle, beim rheinischen Erdbeben von 1846, sogar fünf Meilen unter der Erdoberfläche erfolgte. Dieses gilt vom Stoß selbst. Die Ursache jedoch, welche den Stoß hervorbringt, liegt doch wahrscheinlich noch viel tiefer. Die größte Tiefe aber, bis zu welcher Menschen sich selbst in die Erde hinabgewühlt haben, beträgt kaum mehr als den zehnten Theil einer Meile, und das tiefste Loch, welches sie in die Erdrinde gebohrt haben, um wenigstens ihre Instrumente bis dort hinabzusenken und die Art des Erdreichs zu untersuchen, welches tief unten vergraben liegt, geht 1272 Meter hinab. Dieses tiefste Loch in unserm Weltkörper befindet sich in der Nähe von Berlin, bei dem Orte Sperenberg und wurde in den Jahren 1867 bis 1871 gebohrt. Eine gleich lange Strecke, als hier in die Tiefe hinabgeht, würde ein Fußgänger auf der Erdoberfläche bequem in einer Viertelstunde zurücklegen. Wie sollen wir über das eigentliche Erdinnere etwas Sicheres erfahren, wenn wir von der äußersten Umhüllung unseres Planeten noch nicht so viel untersuchen können, wie die Papierdicke über einem Globus von etwa einem Meter Durchmesser beträgt?

Als man das Thermometer in das Sperenberger Bohrloch hinabsenkte, fand man die längst bekannte Thatsache, daß die Temperatur des Gesteines mit der Tiefe regelmäßig wächst, auch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_008.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2020)
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