Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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leisteten für Verarmung, Verödung und Entsittlichung mancher Landstriche fast nicht weniger als der Dreißigjährige Krieg. So weit und so lange die französische Herrschaft in Deutschland dauerte, war von einer Sorge für öffentliche Sicherheit kaum die Rede. Kam es doch vor, daß französische Generale die Insassen von Zuchthäusern und Festungsgefängnissen frei laufen ließen, wenn ihrer Habsucht ein Gewinn daraus erwuchs. Es war in jeder Beziehung ein „Befreiungskrieg“, welcher die deutschen Länder wieder in den Stand setzte, im eigenen Hause Herr zu sein und reine Wirthschaft zu machen, wo es Noth that. Und wo that es damals nicht Noth? Vor Allem aber galt es, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, namentlich waren Räuber- und Diebsgesellschaften überall in Deutschland zur Landplage geworden. Damals lernten die Polizei- und Kriminalbehörden den eigentlichen Organismus des Gaunerwesens erst gründlich kennen; jetzt erst vermochte man die Gefahr zu ermessen, welche der öffentlichen Sicherheit und Sittlichkeit durch dieselbe drohte. Was war der Einzelne, welcher auf eigene Faust Bettelei, Diebstahl und Raub trieb, gegen diese feste innere Verbindung, das gegenseitige Schutzbündniß, durch welches Bettelei und Dieberei zum Lebensberuf umgewandelt und den Genossen dieses öffentlichsten Bundes ihre Geheimsprache zur zweiten Muttersprache werden konnte!
Die Nothwendigkeit für Polizei- und Justizbeamte, mit dieser Sprache vertraut zu sein, rief eine ganze Litteratur derselben ins Leben. Sie zerfällt in zwei Arten, das Rothwälsch, das in Buchstaben- oder Silbenversetzung besteht, und die eigentliche Gauner-, jenische oder Kochemer Sprache oder Loschen, die wieder in die jüdische und die christliche sich scheidet. Eine der jüngsten Bearbeitungen derselben lieferte der Lübecker Polizeibeamte F. C. B. Avé-Lallemant in seinem Werke „Das deutsche Gaunerthum, 1858 bis 1862, 4 Bände, mit Nachtrag 1879“. Jedenfalls höchst charakteristisch für diese Sprache ist es, daß sie mit einem Worte mit „wittisch“ die Doppelbedeutung von dumm und ehrlich bezeichnet.
Jetzt heißt diese Sprache im Munde Aller, die sie gebrauchen, die Kunden-Sprache, und Kunde ist Jeder, auch der Handwerksbursch, der zum Vagabundenthum hinabgesunken ist. Ueber das Wesen und die Mittel zur Abwehr desselben hat im Jahrgang 1883 unseres Blattes Fr. Helbig in dem Artikel „Der arme Reisende“ (S. 459 und 471) Belehrung und Anregung gegeben. Wenn wir heute diesen Gegenstand noch einmal aufnehmen, so geschieht es, weil ein neuestes Werk uns mitten in das entsetzliche Leben und Treiben dieser verlorenen Söhne des Vaterlandes in einer Weise einführt, welche bis in die höchsten Kreise hinauf den Wunsch und den Willen anregen muß, einem solchen Elend mit allen Mitteln gemeinsamer That ein Ende zu machen.
„Dunkle Bilder aus dem Wanderleben. Aufzeichnungen eines Handwerkers. Von D. Rocholl. 2. Auflage, Bremen, Verlag von F. A. Wiegand.“ Das ist der vollständige Titel dieses Buches.
Wenn wir namentlich in der winterlichen Jahreszeit, die aller Armuth schlimmster Feind ist, die Gestalten beobachten, wie sie in der großen Mehrzahl jetzt als „arme Reisende“ an die Thüren pochen; diese in Kleidung und Fußwerk herabgekommenen Menschen, deren Wäschefetzen oft noch die bessere Herkunft verrathen und die nun arbeits- und obdachlos von Ort zu Ort sich durchbetteln, – so fragt man sich wohl: wie müssen solche „arme Reisende“ die Tage verleben und die Nächte hinbringen? – Das obige Buch versetzt uns mitten in diese Gesellschaft hinein. Wir lesen keine bloße Schilderung von tiefster menschlicher Versunkenheit, sondern wir leben das Elend mit, in das wir mit dem ersten Aufschlagen des Buchs eingetreten sind, und folgen jedem Einzelnen und jeder Gruppe auf den Bettel- und Gaunerzügen.
Dies geschieht zunächst, indem wir das Erwachen des Tages in der geräumigen Gaststube einer „Centralpenne auf dem Lande“ erleben, einer einsam gelegenen Herberge „für Fechtbrüder, Gaukler mit und ohne Roß und Wagen, für Besenbinder, Hausirer, Regenschirmmacher, Topf- und Kesselflicker, Slovaken, Zigeuner, Spitzbuben und alles fahrende, heimath- und arbeitslose männliche und weibliche Volk überhaupt“. – „Der junge Tag wirft seinen matten Schein durch die dick angelaufenen Fenster. – – Welch ein Anblick! Schwarz geräucherte Wände, alte Tische und Bänke, ein umfangreicher Kachelofen und eine an der Decke hängende, im Erlöschen begriffene, dickqualmende Oellampe bilden die ganze Einrichtung. Der Fußboden ist dicht mit Stroh bedeckt, darauf liegen sie reihenweise Mann an Mann gedrängt. Die Tische sind in einer Ecke zusammengeschoben und wie die rings an den Wänden hinlaufenden Bänke belegt mit echt Bassermann’schen Gestalten jeden Lebensalters. Zerlumpt sind sie alle zusammen, der Eine mehr, der Andere weniger. Der in der einen Ecke stehende, besonders dicht umlagerte Ofen ist von oben bis unten mit Fußlappen, einigen Strümpfen, Tüchern und etlichen Röcken zum Trocknen behangen. Der Fuseldunst, die Ausdünstung von 50 bis 60 Menschen, der Geruch der trocknenden Kleider, die qualmende Lampe – welch eine grauenhafte Atmosphäre! Die Schläfer liegen sämmtlich ohne Schuhwerk, die Füße meist wund gerieben und mit Lappen und Binden umwickelt; mit dem ausgezogenen Rock haben sie sich meist bis über den Kopf zugedeckt; das Schuhwerk (und was nennt sich alles noch Schuhwerk!) liegt unterm Kopf. In demselben wird Abends als in dem verhältnißmäßig sichersten Platz für die Dauer der Nacht erstens die vor dem Schlafengehen, wenn irgend möglich, noch einmal gefüllte Schnapsflasche und dann, wenn noch vorhanden, Messer, Kamm, Geldbeutel und Schnupftuch aufgehoben. Noch liegen die Meisten im schweren Schlaf des Fuselrausches.“
Da öffnet der Hausknecht die während der Nacht verschlossenen Fensterläden und kommandirt zum Aufstehen. Und nun fahren die Köpfe über den Röcken hervor und stieren sich gegenseitig mit unbeschreiblichen Jammermienen an: Katzenjammer und Oedigkeit in Leib und Seele! Beim ersten Blick auf das Schneewirbeln draußen am Fenster schleunigste Untersuchung der Taschen und Flaschen – bei der Mehrzahl vergebliches Bemühen, gestern Abend ist der ganze schöne „Draht“ (das erbettelte Geld) in „Saroff“ (nicht „Sauf“, Schnaps) „verschmort“ (vertrunken) worden. Es hilft nichts, sie müssen sich, trotz des Unwetters, zur Fahrt rüsten. Kredit giebt’s nicht in der Penne. Mit Fluchen und Jammern werden die wunden Füße in das hartgewordene Schuhwerk gezwängt; ein Reisebündel („Berliner“) besitzen die Wenigsten; den Meisten genügt der Vagabundenbeutel oder ein unterm Rock am festen Strick getragener Leinwandsack für Brot und etwaige „Fettigkeiten“ (Wurst, Fleisch oder Speck). Den „Stenz“ (Stock) in der zitternden Hand, den sie so notwendig gegen die Dorfhunde brauchen, die geschworenen Feinde des Stromers (ob dieser Widerwille durch den Pennenfuselgeruch erzeugt wird? –): so stehen sie einzeln und in Gruppen, nach anderer Hilfe durch etwa besser situirte Kunden lungernd, bis sie endlich doch, nichts Wärmendes in und auf dem Leibe, in das Sturmwetter hinaus müssen.
Auch eine Bettlerfamilie rüstet sich zur Fahrt. Der Mann bleibt da, um den Platz am Ofen zu hüten, die Frau mit dem Korb auf dem Rücken und zwei Kinder, die Mitleidserreger, zur Seite, wandert ab. Sie bettelt natürlich als Wittwe, deren Mann verunglückt ist.
Aber auch andere, noch nicht so herabgekommene Gestalten beleben das Bild. „Drei gesunde Jungen“ nennt sie unser Buch, die nicht auf Bettel ausgehen, sondern durch Singen, Deklamiren und allerlei Schnurrpfeifereien die Dorfbewohner erfreuen und sich die Säcke und Säckel füllen. Ein Berliner, ehedem Musiker, spielt den Kapellmeister dieser „Brandenburgschen Gebirgskapelle“ und singt zweiten, ein Kölner ersten Tenor und ein königlicher Sachse und Schuster den Baß. Mit Brummstimmen einen lustigen Marsch blasend, ziehen die lustigen Brüder davon. Diese Art Kunden weckt immer noch heitere Erinnerungen in alten Handwerksmeistern auf, die auch in ihrer Jugend erfahren haben, was „tippeln“ (wandern), „talfen“ (betteln) ist und auch aus dem „Dalles“ (Herabgekommenheit) sich glücklich wieder herausarbeiteten.
Ganz leer wird die Penne nicht, aber was von der Kundschaft zurückbleibt, gewährt nur einen trüben Anblick. Es sind theils solche Kunden, welche von der gestrigen Bettelbeute noch genug übrig haben, um heute feiern zu können, theils Marode und Faule, die auf frische Ankömmlinge lauern, bei denen sie ihre Erfahrungen verwerten, theils auch noch Schlimmere, welche die Sicherheit des Ortes benutzen, um sich durch Anfertigung von falschen Legitimationspapieren („Flebben“, nicht „Flappen“) ihren Taglohn zu erwerben.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_027.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)