Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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nicht auf die Straße hinaus wie Venedig, Rom oder Köln, wir machen unsere Vergnügungen innerhalb der vier Wände ab; nur haben diese sich erweitert: wir finden nicht mehr das naive Behagen an dem zu Tanzzwecken ausgeräumten Wohnzimmer; der große, prächtig ausgestattete, taghell erleuchtete Ballsaal ist uns ein Bedürfniß geworden. Ehemals gab der Wiener Fasching sich auch im Freien zu erkennen. Die letzte Spur solcher Regung ist mit dem öffentlichen Aufzuge verschwunden, der früher alljährlich in dem Vororte Ottakring zu Ehren des Karnevals in Scene gesetzt wurde. Auch sonst sind manche Verschiebungen eingetreten. Die Maskenbälle zeigen seit etwa zehn Jahren einen Verlust an Vornehmheit und an gesellschaftlicher Bedeutung; der Boden, auf welchem Frauen aus der guten Gesellschaft sich in Maske bewegen können, ohne sich etwas zu vergeben, ist im Vergleiche mit vergangenen Tagen erheblich enger geworden; er beschränkt sich derzeit auf das Operntheater, das zu solchem Zwecke für etliche Abende umgewandelt wird, und auf die kaiserlichen Redoutensäle.
Ein Umschwung ungünstiger Natur ist auch auf dem Gebiete der aristokratischen Bälle zu verzeichnen. Staatliche Verhältnisse brachten es mit sich, daß ein beträchtlicher Theil des Geburtsadels, dessen Tanzfeste einst zu den auserlesensten Einzelnheiten des Wiener Faschings zählten, Wien nicht mehr als seinen eigentlichen Wohnsitz ansieht, sondern sich in die verschiedenen Provinzialhauptstädte und auf ländliche Schlösser und Besitzungen zurückzieht. Der kaiserliche Hof ist ebenfalls stiller geworden.
So ließe sich noch an manchen Momenten erweisen, daß der Wiener Fasching nach dieser und jener Richtung an Lebhaftigkeit und allgemeiner Wirkung Einbuße erlitten; aber der unparteiische Karnevalsgeschichtschreiber wird andererseits feststellen müssen, daß unserem Karneval noch immer ein reiches Maß von Kraft und Fülle, von Witz und Temperament, von althergebrachter Eigenart innewohnt und daß er sich – wenn von seinen Zweigen auch allerlei Blätter abfallen – doch von Jahr zu Jahr verjüngt und am Dreikönigstage wie ein Phönix von seinem am Aschermittwoch vorher erfolgten Tode neu erwacht.
Die Maskenbälle, wie gesagt, sind nicht mehr, was sie waren. Die besuchtesten fanden früher im Diana- und Sofiensaale statt, zwei Badeanstalten, deren Bassins überdeckt wurden, um als Tanz- oder eigentlich Plauderboden zu dienen. Das Dianabad zieht es jetzt vor, auch im Winter Schwimmlustige zu empfangen, und nur das Sofienbad ist der Ueberlieferung treu geblieben. Aber hierher verirren elegante Masken sich nur in seltenen Exemplaren. Auf den Opernredouten, auf der jeudi-gras-Redoute (die fremdsprachige Bezeichnung ist gang und gäbe für Donnerstag vor Fasten geworden) und der Faschingsdienstagsredoute, welche in der kaiserlichen Burg stattfinden – das letztgenannte Fest verbunden mit der Ziehung der sogenannten Armenlotterie, welche einen Haupttreffer von tausend Dukaten bietet – auf diesen Bällen giebt es immerhin noch eine Menge geschmackvoller, feiner weiblicher Masken, und bei einer solchen Gelegenheit holte unser Zeichner W. Gause sich sein Modell, eine Wienerin, die sich in die Tracht des Direktoriums gesteckt und ihr Gesicht mit Hilfe der Halblarve zu einem reizenden Räthsel gestaltet hat. Das ist sicherlich eine Maske, die in den Ballsaal nicht bloß Hunger, sondern auch Geist mitbringt, vielleicht gar keinen Hunger und sehr viel Geist. Und wer weiß, ob sie – die Halblarve neckt uns, indem sie so wenig verräth – nicht auch zu einer der Gruppen zu ihrer Linken oder Rechten gehört, die von zwei Kostümfesten der bildenden Künstler stammen! Die eine Gruppe erinnert an die niederländische Kirmeß, die andere, deren Gestalten zumeist chinesisch gekleidet sind, an jene Nacht, als die Künstler die Parole ausgegeben, man möge bei ihnen in allen erdenklichen Nationaltrachten erscheinen.
Diese Künstlerfeste wechseln zwischen farbensatter Pracht und einem lachenden Uebermuthe, der geradezu Purzelbäume schlägt.
Ein Jahr gestattet das Programm die Entfaltung stilvollen Prunkes; das andere Jahr kommen Humor, Satire und Parodie an die Reihe. Herrschen die letzteren, so haben wir es mit einem „Gschnas“-Feste zu thun. „Gschnas“ heißt im Jargon unserer Künstler alles, was als Menschenwerk in komischer Weise den Schein von etwas annimmt, was es nicht ist: Seidenstoffe aus Papier, Metallrüstungen aus Kartoffeln, vorsündfluthliche Thiere aus Kistenbrettern u. dergl. m.
Unsere – sagen wir galanter Art: schöne – Unbekannte aus der Aera des Direktoriums besucht sicherlich auch Elitebälle. Diese geben dem Wiener Fasching einen wichtigen Beitrag zu seiner Physiognomie. Schier jeder Stand, jede Körperschaft hat einen Eliteball. Obenan steht derjenige der industriellen Gesellschaften, den traditionell der Kaiser mit den Erzherzogen besucht und auf dem bis vor einigen Jahren auch die Kaiserin erschien, und das Tanzfest des Journalisten- und Schriftstellervereins „Concordia“. An der Hochschule hat jede Fakultät, ausgenommen die theologische, ihren Abend; die Burschenschaften sondern sich zu Kränzchen ab, und wer mit alledem nicht genug hat, bekommt Gelegenheit zum Tanzen auf den Veranstaltungen unserer unzähligen Geselligkeitsvereine, welche sich sammt und sonders bemühen, uns das zu vertreiben, was uns Menschen ohnehin so karg zugemessen ist: die Zeit.
Unseren jungen Mädchen erscheint der Fasching niemals zu lang, niemals zu reich mit Bällen und Kränzchen besetzt. Braucht es erst gesagt zu werden, wie gerne in Wien getanzt wird? Die Wienerin, ob die geborene oder die akklimatisirte, bringt in den Ballsaal ebensoviel Anmuth wie Leidenschaft mit, und daß diese von jener gezügelt wird, hat eine schön abgewogene,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_076.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)