Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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„Man soll nicht weinen über einen Deserteur!“ entgegnete er bestimmt, mir das Wort abschneidend.
Ich sah ihn an, als stände ein Fremder vor mir; aber gutmüthig, wie er ja immer war, mochte er fühlen, daß er mich erschreckt, mir wehe gethan, und mit milderem Tone setzte er hinzu: „Wer selbstsüchtig nur an sich denkt, wer flüchtet vor dem Feind, dem Schmerz, der vor ihm steht, statt ihm die Stirn zu bieten und sich, wenn auch schwer verwundet, zu behaupten in Reih und Glied mit denen, zu denen er gehört und die zu ihm gehören, der ist ein Feigling und ein Deserteur! Nichts mehr, nichts weniger! Er salvirt sich und fragt nicht nach den Anderen! Er wirft sein Leben, das er nützen sollte, ehrlos von sich und fragt nicht darnach, wie schwer er das Leben der Andern belastet, die besser sind und muthiger als er. Leben kann in manchem Augenblicke schwerer sein als sterben. Glaube das!“
Ich kannte ihn nicht wieder, ich kannte mich selbst nicht wieder! Es war mir, als wäre ich zehn Jahre älter geworden, als habe er mich emporgehoben, um mich ihm näher zu bringen, und diese Stunde benutzend, faßte ich mir ein Herz.
„Josias!“ sagte ich, „Du bist doch selbst empfindsam! Du trägst noch heute das Souvenir am Ohre, das mir als Kind schon zu denken gegeben. Du hast, ich bin deß sicher – Du hast geliebt – hast unglücklich geliebt.“
„Du irrst Dich nicht!“ sprach er, und seine schöne wohlklingende Stimme wurde wieder mild. „Du irrst Dich nicht! Ich habe eine leidenschaftliche, eine unglückliche, wenn schon erwiederte Liebe gehabt – aber wenn sie auch entschieden hat über mein ganzes Leben – ich habe kein fremdes Glück zerstört. Ich habe es nicht von mir geworfen, das Leben, so weh es mir gethan; ich habe getrachtet, daraus für andere zu machen, was ich konnte, und – ich bin der Liebe treu geblieben, die dereinst in flüchtiger Stunde mein ganzes Glück gemacht.“
Und wieder hielt er inne, und ich hatte mich zu sammeln. – Wie wenig hatte ich ihn gekannt, den Mann, unter dessen Augen ich gelebt seit meinem ersten Athemzuge! Und kannten ihn die Andern mehr? Wußten mein Vater, meine Mutter mehr von ihm, als die Anderen alle, und als ich?
Sein halbes Bekennen hatte mir Muth gegeben. „Und sie lebt, die Du geliebt hast?“ fragte ich.
„Ja! sie lebt!“
„Und sie ist glücklich?“
„Sie lebt an ihres Gatten Seite, im Kreise ihrer Kinder, geliebt und hochgeehrt.“
„Aber Du?“
„Die wahre Liebe denkt nicht an sich! – Mein Herz ist zeitig still geworden – mein Gewissen auch! – Und ich bin nicht verlassen. Ihr alle liebt mich ja!“
„Alle! Alle!“ rief ich, „und von Herzen! Aber wenn Du mich liebst, mich, die Du Franull genannt, weil Deine Geliebte so geheißen – sage mir, wer war sie? Wo hat sie gelebt? Und warum hast Du sie nicht erwerben, nicht zur Frau gewinnen können?“
Er strich mir mit seiner feinen Hand über das Haar, sah dann nach Westen, nach dem Sonnenuntergang hin. Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Vom Thurme der Klosterkirche schlug es sieben Uhr; ihr Glockenspiel tönte freundlich zu uns herüber.
„Wir haben noch mehr als drei Stunden vor uns, ehe die Eltern von Charlottenburg zurückkehren werden,“ sagte er, „und das, was Du aus Zuneigung zu mir zu hören wünschest, ist rasch erzählt. Dies hat noch kein Ohr vernommen. Dir soll es vertraut sein, eben weil Du jung bist. So lang Du leben wirst, werden wir fortleben in Deinem Gedächtniß, Franull und ich. Es ist ein Stückchen irdischer Unsterblichkeit, das ich mir und unserer Liebe sichere. – Komm’, setz’ Dich her zu mir, wo das Licht nicht blendet! Und nun höre zu!“
Wir speisten während der Sitzung des internationalen anthropologischen und prähistorischen Kongresses in Kopenhagen bei einem der Großhändler der dänischen Residenzstadt, beiläufig gesagt unendlich viel besser als bei „Königs“, wo wir Tags vorher eingeladen gewesen waren. Einem Kommerzienrathe, Finanzbarone stehen ganz andere kulinarische und gastronomische Hilfsquellen zu Gebote, als einer regierenden Majestät, die einen Hofmarschall für Dinge sorgen lassen muß, welche der Kommerzienrath, zumal wenn er Liebhaber ist (und das sind sie alle), selber besorgt. Die Tafel im königlichen Schlosse war gut und die Gäste bei aller Ehrfurcht heiter und ungezwungen; aber bei dem Kommerzienrath war man noch heiterer; denn es servirten keine Läufer in krebsrothen Röcken, die eben so viele Mühe hatten, ihre mit künstlichen, sehr verknitterten und abgeblaßten Blumen verzierten Kopfbedeckungen zu balanciren, welche den hohen Mützen der Grenadiere Friedrich’s des Großen glichen, als die großen silbernen Schüsseln zu hantiren, mit welchen sie kaum zwischen die Gäste einfahren konnten: so breit und wuchtig waren sie.
Ich saß bei Kommerzienraths (bei Königs war ich als Vicepräsident des Kongresses Respektsperson und Cavaliere servente einer Prinzessin) in der Nähe des großherzoglich mecklenburg-schwerinschen Geheimen Archivrathes Lisch, eines gemüthlichen alten Herrn, der große Sammlungen zusammengebracht und beschrieben hat und glücklicherweise der Hilfe einer Haushälterin oder Unterdirektorin seines Museums sich erfreuen konnte, die weniger Wissen und Enthusiasmus, aber mehr Kritik besaß, als ihr Herr und Meister. Lisch nahm alles unbedenklich für bare Münze an, was man ihm sagte, besonders wenn er bei Tische saß und durch Speise und Trank seine jovialen Lebensgeister erweckt hatte.
Es wurde Schildkrötensuppe aufgetragen, echte Schildkrötensuppe, nicht jenes apokryphe Gebräu aus Pfeffer, Kalbskopf und Ochsenschwanz, welches unter dem Namen „Mockturtle“ bekannt ist und sich zu der echten Schildkrötensuppe verhält wie Aepfelwein zu Traubenwein. Es soll dies keine Verunglimpfung sein; ein gut behandelter Hohenastheimer aus reifen Borsdorfer Aepfeln kann oft, meistens sogar besser munden als Grüneberger Schattenseite. Aber der Kommerzienrath hatte für eminent frische Schildkröten gesorgt und die Zubereitung war vorzüglich, ganz jenem Niveau entsprechend, das sich bei einer Gesellschaft herausbildet, die aus allen Kulturländern der Welt zusammengemischt ist.
Als Zeichen der Echtheit hatte man Fleischstücke mit Knochen in der Suppe gelassen, und so fand ich denn auf dem Grunde meines Tellers ein Stück des knöchernen Brustpanzers, der bei der eßbaren Seeschildkröte in fingerartige Fortsätze ausläuft und einem grobzinkigen Kamme nicht unähnlich sieht. Der Knochen war dunkelbraun mit glänzender Oberfläche, von der Farbe, welche im Torfe aufgefundene Gegenstände zeigen. Ich putzte ihn sauber und reichte ihn meinem Freunde Desor, der mir schräg gegenüber saß, mit den Worten: „Ein prähistorischer Kamm!“
Desor lachte, Lisch aber fuhr auf: „Was? Zeigen Sie! Woher haben Sie ihn?“
„Warum bringst Du den Knochen erst jetzt vor?“ sagte Desor, der sofort auf den Spaß einging, „Du nahmst ihn ja doch ausdrücklich mit, um ihn Lisch zu zeigen und seine Meinung darüber einzuholen! Wir sind im Streite,“ fuhr Desor fort, „Vogt und ich, über die Bedeutung dieses in der Pfahlbaute von Robenhausen gefundenen, offenbar von Menschenhand bearbeiteten Knochens. Vogt hält das Instrument für einen Kamm; ich bin der Meinung, daß es als Hechel gedient habe, um die Leinknotten, wie wir sie in der Wetterau nennen, von den Flachsstengeln abzureißen, aus welchen die Pfahlbauern der Steinzeit ihre Gewebe machten. Wenn sie Flachsbrecher und Webstühle hatten, müssen sie auch Flachshecheln gehabt haben. Was meinen Sie, Lisch? Entscheiden Sie!“
Lisch entschied zu meinen Gunsten; ich schenkte ihm zum Danke das Unikum, das er sorgfältig in Papier einwickelte und in der Brusttasche barg. Der gute Alte war selig bis zum andern Morgen, wo einige höchst ernsthafte Wissenschaftler beim
- ↑ vergl. „Gartenlaube“ Jahrgang 1887, Seite 359.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_128.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2020)