Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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vereinzelte und weitere 16 Stunden später sehr zahlreiche Erdstöße ein, von denen jedoch keiner eine Katastrophe herbeiführte. Der Ausbruch fand statt am Tage des Zusammentreffens der Erdnähe des Mondes mit seiner Stellung im Aequator und zwei Tage nach dem Vollmonde, somit zu einem Zeitpunkte, welcher der Fluththeorie vollkommen entspricht.
Da diese sekundären Erdbeben in ihrem fortgesetzten Verlaufe vollständig den Charakter jener sekundären Beben an sich trugen, welche wir regelmäßig nach jeder Katastrophe auftreten sehen, so erwartete ich mit großer Spannung die nächste Hochfluthperiode, welche am 25. und 26. September, wegen des Vollmondes am ersteren und der Erdnähe und des Aequatorstandes am letzteren Datum eintreten mußte. Ich hatte mich am dritten Tage nach Neapel begeben und schon seit längerer Zeit keine Notizen mehr über diese Stöße gelesen, als plötzlich die Telegramme in den Zeitungen verkündeten, daß am September in den Ortschaften am Fuße des Aetna ein sehr heftiges Erdbeben eintrat, welches die früheren an Stärke übertraf. Mehrere Häuser hätten Sprünge bekommen, die Unruhe sei sehr groß, der Aetna lasse ein Brausen vernehmen. Da nun diese Stöße nach der ausnahmslosen Ueberzeugung aller Forscher nur von der unterirdischen Lava ausgehen konnten, welche schon durch den Ausbruch zur Zeit der theoretischen Hochfluth ihre Empfindlichkeit den Mondanziehungen gegenüber verrathen hatte, so wurde es mir klar, daß der Typus einer Erdbebenkatastrophe sich von jenem eines vulkanischen Ausbruchs nicht unterscheide und beide Arten von Naturerscheinungen identificirt werden müßten, somit die Erdbebenkatastrophe ein Vulkanausbruch sei, der sich in großen Tiefen unter der Oberfläche vollzieht. Es blieben dann nur noch zwei Fragen übrig; erstens: verrieth sich der innere Aufruhr der Lava zur Zeil des Aetnaausbruches auch durch stärkere Erderschütterungen an weit entfernten Orten als ein allgemeiner, wie es die Fluthanziehung des Mondes verlangt? und zweiten: wie sind die sekundären Stöße zu erklären?
In ersterer Beziehung ist es jedenfalls auffallend, daß am 25. August in Nafram am Nordabhange des Kaukasus ein Erdbeben so heftig auftrat, daß Schornsteine einstürzten, wobei wieder zahlreiche, schwächere Stöße folgten, und daß am 26. August ein Erdbeben, welches Häuser schwanken machte, auf Portorico sich ereignete. Den Zusammenhang des Verhaltens der Lava am Aetna mit den Erdbebenerscheinungen auf der Erde überhaupt beweist übrigens am besten der große allgemeine Paroxysmus, welcher an den Tagen um den 25. Oktober, genau mit der größten Fluthkonstellation des Jahres 1874 übereinstimmend, die Erde ergriff. Auf diese Konstellation hatte der Verfasser bereits im Märzhefte seiner Zeitschrift „Sirius“ hingewiesen. Sie zeichnete sich dadurch aus, daß am 23. Oktober der Aequatorstand, und am 25. Erdnähe, Vollschein und Finsterniß des Mondes eintrat, und zwar war die Erdnähe die größte im ganzen Jahre. Nun traten nach längerer Ruhe am 23. und 24. Oktober am Nordabhange des Aetna die Erdstöße neuerdings auf; am 24. Oktober setzte ein heftiger Erdstoß zu Clana im Küstenlande drei Sekunden lang alles in Bewegung, mit dem 24. Oktober begannen die Erderschütterungen am Vesuv besonders zahlreich zu werden; am 26. Oktober ereignete sich ein Erdstoß in Yokohama und am nämlichen Tage ein großes Erdbeben in Chile, welches dreißig Sekunden andauerte und von Copiapo bis Talka reichte.
Die zweite Frage wurde bisher in dem Sinne beantwortet, daß man die sekundären Stöße nach einer Eruption einfach einer durch Verstopfung des Schlotes herbeigeführten gewaltsamen Unterbrechung der Ausbruchsthätigkeit zuschrieb. Wenn diese Erklärung richtig wäre und das Anschlagen der empordringenden Lava oder ihr Druck die Erschütterungen erzeugte, dann müßten diese unmittelbar vor dem Ausbruche, wo der Auftrieb am heftigsten ist, am stärksten und zahlreichsten eintreten. Dies ist aber thatsächlich nirgends der Fall; und wenn man sich bisher der Meinung hingab, daß eine Eruption in der Regel durch vorausgehende Erdstöße angekündigt würde, so befand man sich damit in einem Irrthum, für welchen oberflächliche Berichterstattungen die Verantwortung tragen. Heftige und zahlreiche Erdstöße in den kürzesten Zwischenräumen treten nicht vor, sondern nach der Eruption ein. Diese letztere ereignet sich in den meisten Fällen völlig plötzlich, wofür auch die Geschichte des Aetna zahlreiche Belege bietet. Wie bei den Katastrophenbeben, so haben auch bei den Eruptionen angebliche Beobachtungen vorausgehender Erdstöße stets einen sehr zweifelhaften Charakter, während die Mittheilungen über die nachfolgenden Stöße eine allseitige Bestätigung erfahren.
Eine zutreffende Erklärung dieser Erschütterungen liefert uns das Verhalten der Lava, wenn sie von dem Drucke des überlastenden Dampfes befreit wird. Der Verfasser hatte Gelegenheit, dieses Verhalten selbst zu beobachten, und die Mitteilungen anderer Forscher stimmen damit völlig überein. Es entwickeln sich nämlich aus der Lavamasse zahlreiche Gase und Dämpfe, welche im verstopften Schlote sich dann über die Oberfläche der Lava lagern und durch ihren Spannungsdruck auf dieselbe derartig rückwirken, daß die Ausscheidung nur allmählich und ohne Erschütterungen geschieht. Ist dagegen der Schlot geräumt, so verflüchtigen sich die ausscheidenden Gase; ein Druck auf die Oberfläche der Lava ist nicht mehr vorhanden, weshalb nun diese Ausscheidungen mit großer Heftigkeit vor sich gehen. Blase um Blase windet sich durch die ganze Lavasäule hindurch von unten nach oben, und jede derselben zerplatzt, an der Oberfläche angelangt, unter heftiger Explosion, wodurch Schlacken von Lava und flüssige Theile derselben in bedeutende Höhen geschleudert werden. Da die Blasen rasch nach einander folgen, so wiederholen sich diese Explosionen beständig und in regelmäßigen Zwischenräumen. Und wenn dann ab und zu einmal eine dieser Explosionen wieder heftiger auftritt, dann fühlt man auch, wie der Boden unter den Füßen erzittert. Hierin liegt ganz unverkennbar die Ursache der zahlreichen Erdstöße nach einer Eruption. So lange nun die Lava sich im Berge noch über dem Niveau der umliegenden Ebene befindet, werden die von ihrer Oberfläche ausgehenden Stöße nur die Wände des Kegels treffen und sich daher auch nur einem auf demselben stehenden Beobachter, nicht aber den Bewohnern der umliegenden Ebene bemerkbar machen. Sinkt aber die Oberfläche der Lava bei ihrem Zurücktreten aus dem Kegel des Vulkans unter das Niveau der umliegenden Ebene, so wird die ganze Umgebung die zahlreichen Explosionsstöße empfinden; es werden einige Stunden oder, wenn das Sinken sehr langsam erfolgt und der Kegel des Vulkans sehr hoch ist, einige Tage nach der Eruption zahlreiche und heftige Erdbeben eintreten. Diese sind also nicht die Vorbereitung, sondern die Folge einer Eruption.
Schließen wir nun alle oben angeführten charakteristischen Erscheinungen, welche bei Erdbeben beobachtet werden, in den Umkreis unserer Schlußfolgerung ein, so kommen wir zur Erkenntniß, daß das Phänomen der Katastrophenbeben mit allen seinen Einzelheiten vollständig den Erscheinungen gleicht, welche auftreten würden, wenn unter der Erdoberfläche in bedeutenden Tiefen ein vulkanischer Ausbruch stattfände, und zwar an einem konstant hier befindlichen Herde, der sich nur allmählich in größeren Zwischenräumen ladet und nach seiner Entladung auf lange Zeit ungefährlich ist und wobei, wie ausdrücklich betont werden muß, die Zeit des Durchbruches nicht allein von der Stärke des Druckes der Lava, sondern auch von dem unberechenbaren Widerstande abhängt, welcher dem endlichen Durchbruche derselben entgegengesetzt wird. Bei sehr bedeutendem theoretischen Hochfluthwerthe wird es allerdings, wie die Erfahrung zeigt, in der Nähe des Jahresmaximums selten ohne Katastrophe abgehen.
Was Deutschland betrifft, so waren die stärksten Erdbeben aus jüngster Zeit der Stoß vom 6. März 1872, welcher von Breslau bis Wiesbaden und von Hannover bis Hechingen die Erde bewegte, und jener vom 26. August 1878, welcher ein Gebiet von mehr als 2000 Quadratmeilen erschütterte.
Vergleichen wir nun die an diesen beiden Tagen eingetretenen Konstellationen, so bleibt über ihren Zusammenhang mit dem unterirdischen Hochfluthen kein Zweifel übrig. Es war nämlich:
- 1872. 6. März Erdnähe
- 1872 9. März Neumond
- 1872 11. März Aequatorstand
- 1878. 28. August Neumond.
- 1878 29. August Erdnähe
- 1878 – August Aequatorstand.
Wie der Leser jetzt deutlich erkennen wird, baut sich die Theorie des Verfassers nicht aus bloßen Vermuthungen auf, sondern gründet sich auf die sorgfältige, mathematisch-physikalische Erörterung eines reichen Erfahrungsmaterials, das sich noch fort und fort vermehrt.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_248.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)