Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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„Ein Jahrzehnt erst trägst du die Königskrone der Väter,
Jubelnd bietet man dir, Kaiser, die Krone des Reichs!
Heil uns, daß du sie nahmst! Wen könnte sie würdiger schmücken?
Frage die Fürsten im Kreis, alle sie huldigen dir,
Der ein Held du zugleich und erster Bürger des Staates,
Pflichtstreng gegen dich selbst, anderen gütig und mild.
Mäßig im Siege dereinst, nun schirmst du den Frieden der Erde,
Nimmer ermüdend daheim, rüstig zu krönen den Bau.
Die jeden Einzelnen über das gewöhnliche Alltagsgefühl so hoch hinaustragenden mächtigen Erschütterungen und hinreißenden Erfolge der großen Zeit von 1870 übten nach allen Seiten ihren läuternden Einfluß. Wie Schneeflocken in der Frühlingssonne schmolzen jahrhundertalte Vorurtheile im strahlenden und erwärmenden Lichte der Gegenwart. Die Waffenbrüderschaft dieses gewaltigen Krieges tilgte die letzten Reste veralteter Stammesgegensätze.
„Bei Wörth und an der Seine Bord
Ward heil’ger Bund geschlossen:
Da ist das Blut von Süd und Nord
In einen Strom geflossen.“
Und hinter den Bevölkerungen blieben die Fürsten und Regierungen Deutschlands nicht zurück. So konnte denn schon am 18. Januar 1871 Mittags 12 Uhr im Spiegelsaale des Versailler Schlosses König Wilhelm unter dem Jubel der versammelten preußischen Prinzen, Fürsten, Feldherren, Minister und der durch 56 Fahnendeputationen vertretenen Angehörigen aller Gattungen des deutschen Volkes in Waffen zum deutschen Kaiser ausgerufen werden:
„Laßt flammen die Feuer, die Fahnen laßt wehn:
Du, Traum unsrer Väter, nun sollst du erstehn!
Unter Donnerhall, unter Glockenlaut
Gab heute sich Deutschland dem Kaiser zur Braut!“
Dem Bundeskanzler Grafen Bismarck, dessen staatsmännisches Genie, nationaler Sinn und eiserner Wille so Großes zur Vorbereitung dieser höchsten Ehrenstunde für seinen königlichen Herrn beigetragen, war die schöne Aufgabe zugefallen, die Proklamation „An das deutsche Volk“ zu verlesen. Dieselbe schloß mit den Worten: „Uns aber und unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens, auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.“
Wie alle seine Gelöbnisse hat Kaiser Wilhelm auch das vorstehende bis zum letzten Athemzuge vor Augen gehabt und in jedem Worte treu gehalten! –
Der Jubel Berlins, der jetzt zur Reichshauptstadt erhobenen preußischen Residenz, bei der Heimkehr des Kaisers aus Frankreich am 17. März 1871 spottet jeder Beschreibung.
Nach Abschluß des Friedens mit Frankreich ging es alsbald wieder an die kurze Zeit unterbrochene innere Arbeit, gemäß dem am 21. März bei Eröffnung des ersten Deutschen Reichstages vom Kaiser selbst gesteckten Ziele, wonach „die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein möge, sich in dem Wettkampfe um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen“. So reich an Thätigkeit und Erfolgen auf dem Gebiete des inneren Ausbaus wie der äußeren Politik ist dieser letzte Abschnitt im Leben des Kaisers, daß wir darauf verzichten müssen, hier auch nur eine Aufzählung, geschweige denn eine ins Einzelne gehende Darstellung derselben zu versuchen.
Der Lebensabend unseres entschlafenen Kaisers wurde namentlich von zwei Aufgaben, welche er als die wichtigsten zur Festigung
- ↑ Nach Ernst Scherenbergs Gedenkbuch für das deutsche Volk „Kaiser Wilhelm I.“. (Leipzig, Ernst Keils Nachfolger.)
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_249.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)