Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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des Reiches betrachtete, ausgefüllt: möglichste Entwicklung und Ausbildung der deutschen Wehrkraft zum Schutze des Vaterlandes gegen Angriffe von außen und möglichste Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen auf gesetzlichem Wege. Die so eigenartig gestaltete deutsche Sozialpolitik ist seiner persönlichsten Inangriffnahme zu verdanken. Den äußeren Anstoß hierzu gaben die das ganze Volk mit höchster Entrüstung und Abscheu, den Kaiser aber mit tiefschmerzlichsten Empfindungen erfüllenden Verbrechen eines Hödel und Nobiling am 11. Mai und 2. Juni 1878. Nach dem zweiten Attentate erschien der Zustand des von den Geschossen Nobilings schmachvoll verwundeten greisen Herrschers wegen des erlittenen starken Blutverlustes immerhin bedenklich. Durch Verordnung vom 4. Juni wurde daher dem damaligen Kronprinzen die Stellvertretung des Kaisers und Königs in der oberen Leitung der Regierungsgeschäfte übertragen. Die kernhafte Natur, die aufopfernde Pflege der Kaiserin und der Großherzogin von Baden ließen den Monarchen, wenn auch langsam, die Folgen der Verwundungen überstehen. Heldenhaft und selbstlos, nur von der Sorge für das Staatswohl und die Seinigen geleitet, erwies sich auch in dieser schweren Prüfungszeit der Kaiser wieder. Im Juli war die Genesung bereits soweit vorgeschritten, daß er nach Babelsberg übersiedeln konnte, wo er in den stillen schattigen Gängen des von ihm selbst angelegten Parks, wie so oft, auch diesmal wieder für Gemüth und Körper Erquickung und Stärkung fand. Schon am 29. Juli durfte er zur Kur nach Teplitz abreisen, wo er den Besuch des Kaisers von Oesterreich empfing. Nach weiterer Kur in Gastein, Baden-Baden und Wiesbaden kehrte er endlich nach fünfmonatiger Abwesenheit, neu für seinen Herrscherberuf gekräftigt, nach Berlin zurück.
So viel glänzende und begeisterte Einzüge in seine Hauptstadt Kaiser Wilhelm auch erlebt hatte – wärmer, inniger und jubelnder ist der Empfang, sinniger waren die Beweise der Liebe, die Art der Ausschmückung, strahlender und allgemeiner ist abends die Erleuchtung der Häuser bis in die entlegensten Straßen noch nie gewesen wie am 5. Dezember 1878! Durch seinen Sinn aber zog in diesen bewegten Stunden nur der eine Gedanke, wie dies Volk, welches ihn so liebte, auch in sozialer Hinsicht gehoben werden könnte.
Von dieser Zeit an reiften in der Reichsregierung die Pläne für den Ausbau jener organischen Gesetzgebung zum Schutze und zur Verbesserung der Lage der Arbeiter, mit welcher das Deutsche Reich allen anderen Staaten zu leuchtendem Beispiel voranschreitet und für welche Kaiser Wilhelm in seinen berühmten Botschaften vom 17. November 1880 und 14. April 1883 mit größter Energie und Herzenswärme eintrat.
Welcher Förderung Handel und Gewerbe – seit 1884 auch die junge Kolonialpolitik des Reiches – sich unter der Friedensregierung des Kaisers bis zuletzt zu erfreuen hatten, ist allbekannt. Einem zugleich dem deutschen und internationalen Schifffahrtsverkehr wie der Verstärkung unserer Wehrkraft zur See dienenden Zwecke entsprang der Plan des zum Theil aus Reichsmitteln zu bauenden Nord-Ostseekanals, dessen Grundsteinlegung zu Holtenau bei Kiel am 3. Juni 1887 unter einer der nationalen Bedeutung entsprechenden Feierlichkeit in Gegenwart des Kaisers vor sich ging. Damit war endlich ein großes Werk begonnen, dessen Ausführung bis zur Einigung des Vaterlandes als ein in unerreichbarer Ferne schwebendes Ziel patriotischer Wünsche erschien. – Es sei hier die Erwähnung der Fertigstellung und Einweihung eines Denkmals angeschlossen, welches ebenfalls lange Zeit als unvollendetes Wahrzeichen der vergeblichen deutschen Einheitsbestrebungen betrachtet wurde. Wir meinen den Kölner Dom.
Die Schlußsteinlegung in der Kreuzblume des südlichen Domthurms war vom Kaiser aus Pietät gegen seinen Bruder Friedrich Wilhelm IV., der das Dombauwerk so mächtig gefördert hatte, auf den 15. Oktober, den Geburtstag des verstorbenen Königs, im Jahre 1880 angesetzt worden. Von dem auf dem Domplatz errichteten Kaiserzelte aus sah Wilhelm I., umringt von vielen deutschen Fürsten, umwogt von einer zahllosen festlichen Menge, erwartungsvoll dem feierlichen Augenblick entgegen, wo die im Südthurm hängende Kaiserglocke, als Zeichen, daß das Riesenwerk vollendet, zum ersten Mal ihre gewaltige eherne Stimme ertönen lassen würde, verkündend:
„Des Reiches erzener Herold nun
Die Wacht am Rhein verseh’ ich;
Daß am heimischen Herde die Völker ruhn,
Auf heil’ger Warte steh’ ich!
Niemals im Hader der Partei’n
Soll meine Stimm’ erschallen;
Ich ruf im Fest- und Friedensschein
All-Deutschland in die Hallen.
Vom hochaufstrebenden Glockenthurm;
Weit über die Lande seh’ ich;
Ich übertöne Kampf und Sturm;
Dem Deutschen Reich erfleh’ ich:
Daß Fried’ und Wehr
Ihm Gott bescher’!“
„Fried’ und Wehr!“ Für beides war Kaiser Wilhelm bis zu seinem Ende unermüdlich thätig. In letzterer Hinsicht begnügte er sich nicht nur, auf gesetzlichem Wege die Heer- und Wehrordnung immer mehr zu verbessern, sondern ohne jede Schonung seines alternden Körpers pflegte er auch den praktischen Militärdienst durch alljährliche Abhaltung von Besichtigungen, Paraden und Manövern wechselnd in den verschiedenen Provinzen und deutschen Ländern. Bei diesen Veranlassungen besuchte der Kaiser auch wiederholt die Reichslande Elsaß-Lothringen, so 1877, 1886, und es gelang ihm auch hier, sich die allgemeinen Sympathien für seine hoheitsvolle und herzgewinnende Persönlichkeit zu erringen. Die Rüstigkeit des Kaisers und sein nach wie vor scharfer militärischer Blick strafte die Aeußerung Lügen, welche er im Bedauern darüber, daß er nicht mehr reiten könne, 1886 zu einem höheren Offizier scherzend gethan haben soll: „Wenn ich ein gewöhnlicher General wäre, so hätte ich schon längst den Abschied!“
Kaiser Wilhelm bediente sich, wie hier erwähnt sein möge, während der letzten Lebensjahre, um den Mangel der Reitfähigkeit auszugleichen, eines eigens für ihn gebauten Manöverwagens, dessen sinnreiche Einrichtungen ihm ermöglichten, lange Zeit, ohne zu ermüden, stehend die Paraden und großen Truppenübungen mit seinem nimmermüden Feldherrnauge zu verfolgen und zu überwachen.
Unter den sich während der letzten beiden Jahrzehnte im Leben des Kaisers drängenden militärischen Gedenktagen war der 1. Januar 1887, welcher sein achtzigjähriges Militärdienstjubiläum brachte, der bedeutungsvollste. Der Kronprinz entbot zu diesem Tage an der Spitze der Generale seinem königlichen Vater und Kriegsherrn den Gruß des ganzen Heeres. Hiernach schloß der Kaiser den Sohn bewegt in seine Arme. Dann ging er auf den Feldmarschall Moltke zu, umarmte auch diesen in herzlichster Weise und dankte ihm für seine unvergleichlichen Dienste. Beim Festmahle trank er zum Abschiede auf die Armee, indem er die Hoffnung ausdrückte, daß sie immer das bleiben werde, was sie bisher gewesen und bis jetzt sei, wenn sie auch weiter festhalte an den drei Grundsäulen ihrer Tüchtigkeit. „am Ehrgefühl, an der Tapferkeit, am Gehorsam!“ –
„Fried’ und Wehr!“ Sehen wir nun in zusammenfassendem Ueberblick auch, wie Kaiser Wilhelm für das erste köstliche Gut sorgte, wie er nach einer durch kriegerische Erfolge zu Gunsten Deutschlands bewirkten gewaltigen Machtverschiebung doch kein anderes Streben im Auge hatte, als dem Deutschen Reiche eine ungestörte Entwickelung und Europa den allgemeinen Frieden zu bewahren.
Schon sofort im Sommer des Jahres 1871 begann die Friedensarbeit des Kaisers, in welcher er vom Fürsten Bismarck in so genialer Weise unterstützt wurde. Der gleichzeitige Aufenthalt beider in Gastein wurde zur Wiederherstellung intimerer
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_250.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)