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Seite:Die Gartenlaube (1888) 256.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Leben und sich selbst verfluchte, während er, sich selber darob verspottend, an jedem Tage sein Tagewerk abhaspelte, wie es eben als ein gebotenes vor ihm lag.

An jedem Morgen fragte ich mich: wird heute die Nachricht kommen, daß sie der Graf verlobt hat? – Und wenn der Gedanke daran mich genugsam gequält, so wünschte ich: wär’s doch erst geschehen, damit ich Ruhe fände! Aber sie waren im Bade gewesen, heimgekehrt, hatten uns besucht, wir hatten den Besuch erwidert, und alles war still, war geblieben wie bisher, und es kamen sogar weniger Gäste in das Schloß als in den beiden letztverwichenen Jahren; denn die wachsenden Schrecken der französischen Revolution nahmen dem grundbesitzenden Adel das Gefühl der Sicherheit, in welchem er bisher überall und vornehmlich bei uns in der Mark gelebt. Was jenseit des Rheines geschehen war, konnte auch bei uns geschehen. Wie von einem fernen, furchtbaren Erdbeben fühlte man den eigenen Boden unter den Füßen mit erzittern, und die großen Weltereignisse, ebenso wie das Stillleben, das mich für den Augenblick umgab, fingen doch an, mich allmählich zu beruhigen. Wie nach einem hitzigen Fieber kam ich zur Besinnung. Ich nannte mich einen Thoren, daß ich mich und mein Glück so wichtig genommen! Was war der Einzelne werth! Was war an mir gelegen, wenn ein Herrscherpaar enthauptet worden war, wenn täglich Bessere, Wichtigere als ich ihr Leben lassen mußten auf offenem Platze unter Henkers Hand!

Nun gut! Ich war nicht glücklich! Ich konnte es nie werden! Aber weshalb sollte ich mich des Guten, das ich noch genießen konnte, nicht erfreuen? Ich konnte jetzt sie öfter, immer öfter sehen! Der Graf, der sich wieder an Geselligkeit gewöhnt, sah mein Kommen gern, forderte mich dazu auf; Franulls heiterer Gleichmuth machte ihn sicher, wiegte mich ein. Ich fing an, mir in der Entsagung zu gefallen; ich bildete mir ein, meine Leidenschaft in einen Kultus verwandelt zu haben. Es waren sanfte, schöne, glückselige Tage voll lauter Selbstbetrug, und es war niemand, der uns darin störte; am wenigsten die Baronin, die gute Tante Klothen, wie sie ein Jeglicher im Hause, so in der ganzen Gegend hieß.

Die beiden jüngeren Söhne der Baronin standen im Heere jetzt an der Grenze; Baron Hans war schon vor Jahr und Tag als Legationssekretär der Gesandtschaft in Wien beigegeben. Er schrieb sehr regelmäßig. Die Briefe wurden im Schlosse viel besprochen, die Berichte von dem Leben am österreichischen Hofe, die Schilderungen der verschiedenen Personen waren sehr interessant; die Grüße an die Komtesse, an die holdselige gnädige Kousine, an den schönen Wildfang, fehlten nie. Ab und zu, wenn die Entsendung eines sich gefällig erweisenden Kuriers es ermöglichte, überschickte Baron Hans seiner Mutter ein Geschenk, und es lag dann irgend eine elegante Kleinigkeit dabei, von welcher der Absender erhoffte, daß Komtesse Franziska es nicht verschmähen würde, sie anzunehmen; und diese Zwischenfälle erregten stets Freude, wie jede Abwechslung in dem gleichförmigen Dasein auf dem Lande. Ich sah und erfuhr das Alles. Manchmal, wenn ich meine ruhigen Tage hatte, nahm ich’s wie ein Selbstverständliches hin; an anderen Tagen, wenn Franulls Zutraulichkeit meine Leidenschaft mehr als sonst erregte, fand ich es unerträglich, neben ihr den Tag der Entscheidung erwarten zu sollen. – Nun ist’s genug! Heute bist Du zum letzten Male in Dambow gewesen! sagte ich mir, wenn ich sie verlassen. Und ehe die Woche zu Ende war, fand ich mich auf dem alten Punkte, die Tage zählend, die seit meinem letzten Besuche im Schlosse verstrichen waren, und überlegend, wann die gebotene Zurückhaltung es mir gestatten würde, wieder gen Dambow zu reiten und sie wieder zu sehen. Das Ende stand so doch vor der Thür bald genug; aber von den in Paris zum Tode Verdammten drängte sich so auch keiner dazu, die Guillotine zu besteigen! Jeder Tag, jede Stunde des Ausschubs war Gewinn und Glück!

Und so ward es noch einmal Sommer und Herbst und Winter und Frühling, und wie unser Herrgott seine Sonne scheinen ließ über Gerechte und Ungerechte und über all mein Glück, all meine Verzweiflung, so ließ er es auch wachsen und gedeihen um uns her, und Franull blühte in ihrem achtzehnten Jahre schön wie die Natur um sie her! Und in Dambow stand die Karlsbader Reise vor der Thür. Sie sollte wie immer am ersten Juni angetreten werden, am neunundzwanzigsten Mai fuhren meine Mutter und ich nach Dambow, die Herrschaften noch einmal zu sehen, bevor sie gingen.

Dort angelangt, fanden wir den Grafen nicht zu Hause. Er war zu einer Taufe in der Nachbarschaft und wurde erst am Abend zurückerwartet. Wir wurden wie immer herzlich empfangen, erfuhren gleich bei der ersten Unterhaltung mit den Damen, daß die Baronin und die Komtesse, seit wir sie zuletzt gesehen, in Berlin gewesen waren, Einkäufe an Kleidern, Putz und Schmuck zu machen; und während die Baronin meiner Mutter eine und die andere dieser Herrlichkeiten zum Ansehen herbeiholen ließ, schlug die Komtesse mir vor, in den Garten hinauszutreten.

Das war oftmals geschehen, seit sie mich zu ihrem Vertrauten gemacht. Sie hatte dann in aller Seelenruhe mit mir von jenen kleinen Ereignissen geplaudert, die sich zugetragen; sie hatte auch von den Büchern gesprochen, mit denen sie sich grade beschäftigt; ab und zu war von den Hilfsleistungen die Rede gewesen, mit welchen der Graf jetzt mehr noch als zuvor sich seiner Unterthanen annahm, und bei denen er die Baronin und die Komtesse sich zur Hand gehen ließ, um eben ein gutes Verhältniß zwischen der Herrschaft und den Leuten fortbestehen und die Leute nicht aufsässig werden zu machen; und von dem Allen hatten wir verhandelt, als wäre ich wirklich ihr ein Bruder, nur ein Bruder … nicht aber ich!

An dem Abende jedoch waren wir schon ein ganzes Ende vom Schlosse entfernt, ohne daß sie ein Wort gesprochen, und mir war es gleich am Anfang aufgefallen, daß ein Schatten über ihrer Stirn lag. Sie war trotz ihrer Freundlichkeit ernster gewesen, als sie sich zu zeigen pflegte. Es überfiel mich eine Bangigkeit. Ich mußte wissen, was es mit ihr war.

‚Sie sind so schweigsam, theuerste Komtesse! Darf ich fragen, was Sie innerlich beschäftigt? Denn beschäftigt sind Sie!‛ sagte ich.

,Wie Sie mich kennen!‛ entgegnete sie mir, sah aber zu Boden, nicht mir ins Gesicht. ,Es ist wirklich eine Fügung Gottes, daß Sie grade heute noch gekommen sind, denn ich wäre sehr ungern fortgegangen, ohne daß Sie’s wußten; und seit all den Tagen habe ich gesonnen und gesonnen, wie ich es Ihnen kundthun sollte; denn Ihnen schreiben konnte ich doch nicht!‛

‚Sie wollten mir schreiben, daß Sie am ersten Juni reisen werden? Das stand ja fest, als ich die Ehre hatte, Sie zum letzten Mal zu sehen!‛

‚Nein! das nicht!‛ sprach sie mit einer Befangenheit, die mich mit ergriff und mich erschreckte.

‚Aber was dann? was dann wollten Sie mir schreiben?‛

‚Was Sie –‛ ihre Stimme wurde immer weniger sicher – ‚was Sie, Courville! – Sie, der Sie mich kennen – ja – mein Vertrauter, mein vertrauter Freund sind! Wissen mußten Sie’s vor allen Anderen.‛

‚Reden Sie! reden Sie! was soll ich erfahren?‛ rief ich mit angstvoll dringender Bitte. Ich konnte ja nicht zweifeln, was es war.

Sie stockte, nahm sich zusammen und sagte: ‚Es ist eigentlich kindisch, daß man so davor bangt, so etwas auszusprechen etwas, was sich die Spatzen auf den Dächern schon lang erzählt haben.‛ Und wieder stockte sie.

Wie um mich, um sie zu halten, hatte ich ihre Hand ergriffen. Mir schauderte vor dem Wort, das ich hören mußte. Sie hielt meine Hand in der ihren fest.

‚Ich sehe, Sie wissen’s!‛ begann sie aufs neue, ‚also kann ich kurz sein! Wenn wir nach Karlsbad kommen, finden wir den Vetter Klothen schon dort, und – dann – nun Sie wissen’s ja! Dann wird unsere Verlobung gefeiert!‛

‚Franull! Franull!‛ schrie ich auf, meiner selbst nicht mächtig; aber in demselben Augenblicke hing sie an meinem Halse, preßten wir Brust gegen Brust, brannten meine Lippen auf den ihren, und bebend unter meinen Küsten, rief sie: ‚Ich hab’s ja nicht gewußt, nicht geahnt! – Wie konnte ich, da es ja immer, immer so gewesen ist!‛

‚Franull!‛ rief ich wieder, ‚immer! immer so gewesen!‛ Ich kannte sie, mich selber nicht mehr … Der jähe Wechsel war zu groß!

‚Immer! immer!‛ sprach sie mir nach. ‚Ja! jetzt weiß ich’s! jetzt! Ich habe Dich geliebt, geliebt wie die Augen in meinem Kopfe, ohne je daran zu denken, daß ich sie habe. Und weil’s immer so gewesen, hab ich’s nicht bemerkt! Es war

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_256.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2018)
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