Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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Deshalb mußte er sich auch jedesmal bücken, wenn er einen Hut aufhatte; darum ging er lieber baarhaupt hinab, wenn er Luft schöpfen und sich die Welt ein wenig ansehen wollte. Er füllte dabei die Hausthür auch in der Breite; nur ein schmales Lüftchen fand gerade Raum, sich demüthig rechts und links von den schneeweißen Hemdsärmeln in das Haus zu schleichen. Denn an Florian selbst fand es keine Arbeit, nicht einmal Locken gab es da zu durchwühlen; die röthlich blonden Haare waren ganz kurz geschoren und standen als unzählbare starre Stacheln himmelwärts. Alle Vorstellungen der Tante, welcher die idealen Kunstwerke des seligen Theaterfriseurs vor der Seele schwebten, waren vergeblich: das „Herumkämmen“ war ihm nun einmal zuwider. Der röthliche Schnurrbart wuchs als ein rechter Urwald in unverdrossener Ueppigkeit, die nie von der Kultur beleckt worden. Florian war nicht eitel, weder auf sein Aeußeres, noch auf seine Kunstfertigkeit, noch auf sein Vermögen, und dann – es fehlte ihm der bewegende Anstoß zur Eitelkeit: er kümmerte sich nicht um die Weiber. Sie erschienen ihm nach allem, was er als Unbeteiligter von ihnen gesehen hatte, recht eigentlich als Störenfriede jener sich selbst bestimmenden Ruhe und Behaglichkeit, in welcher er vergnüglich dahinlebte. Wäre einmal eine Frau im Hause, so bestimmte sie ihrerseits gleichfalls, oder vielleicht gar nur sie allein. Eine angenehme Häuslichkeit schuf ihm die Tante in untadeliger Weise – er bekam so bloß viele Annehmlichkeiten und nicht das Mißliche eines weiblichen Waltens zu kosten. Man sah ihn niemals Frauen besuchen, ansprechen, begleiten; das Tanzen nannte er lächelnd eine „Robot“, und das Hofmachen erschien ihm höchst absonderlich und als eine unerklärliche Schrulle. Sein Umgang beschränkte sich auf einige ehrsame Bürger der älteren Generation, mit denen er zuweilen am Abend in dem benachbarten Gasthause zusammenkam. Die Anderen redeten, er hörte zu und zupfte an seinem linken Ohrringe; dann ging man vor der Sperrstunde allerseits befriedigt heim.
Er war kraftstrotzend und mächtig in seiner Erscheinung, und Jakobäa sah in ehrfürchtiger Bewunderung zu ihm empor; andererseits dagegen war etwas Unkünstlerisches an ihm und etwas Kunstwidriges in ihm, und darauf sah Jakobäa wieder mit einem gewissen Mitleiden herab. Dieser klaffende Zwiespalt ihrer Gefühle gab ihrer Art, mit ihm umzugehen, etwas Gereiztes, Aufgeregtes, Sprunghaftes, wobei er mitunter ganz verwundert aufblickte und sich aus seiner stillen Cigarrenrauchdämmerung vorbeugte. Es zuckte durch Jakobäas getheilte Gemüthsregungen eine Art elektrischen Fluidums, das zu ihm hinübersprang und schwerfällige Bewegungen aus seinen Gliedern, ja sogar Worte von seinen Lippen löste. Fräulein Nina vermochte ihr Erstaunen kaum zu bemeistern, als Florian jetzt zuweilen ungefragt etwas sagte, ja als man sogar ganze Sätze von ihm zu hören bekam, ohne daß er es nothwendig hatte. Denn in solche Ungelegenheit hatte er sich nur bei außerordentlichen Anlässen gestürzt, und das hatte ihn jedesmal eine große und widrige Anstrengung gekostet.
Aber trotz dieser merkbaren Fortschritte in menschlicher Geselligkeit sah Jakobäa immer noch den Ring im linken Ohr nebst vielen anderen Dingen und hörte über den Flur die Gräueltöne der Ziehharmonika. Da machte sie einmal gemeinsam mit der Tante einen Sturm auf ihn, daß er mit ihnen in das Theater gehe. Jedoch der Sturm wurde abgeschlagen, er ging nun einmal überhaupt in kein Theater; man mußte vorher an eine regelrechte Belagerung schreiten, und erst mit Kriegslisten und unterirdischen Minen brachte man ihn endlich aus dem Hause. Aber fast noch mühsamer brachte man ihn dann nach Hause; er hatte trotz Goethes „Iphigenia“ und trotz der hinreißenden Darstellung der genialen Wolter so gut geschlummert und endlich so fest geschlafen, daß er nur mit Gewaltmitteln aufgeweckt werden konnte und ganz schlaftrunken heimtaumelte.
Auf diese Art also ging es nicht. Es mußten andere Mittel versucht werden.
Im Pestalozzistift.
Mein alter Freund, wie schwer bin ich betroffen! Mein ältester Sohn – Du kennst ihn ja – ist zu einem Taugenichts herangewachsen, der seine Eltern jeden Tag und jede Stunde auf das tiefste betrübt. Unsere Nachbarn, seine Lehrer, seine Mitschüler – alle beklagen sich über ihn. Und es sind nicht lose Streiche, welche man lebhaften Kindern ja stets nachzusehen pflegt, um die es sich hier handelt; mit tiefstem Schmerze muß ich es Dir gestehen: unser Sohn ist nicht wahr, er ist nicht – ehrlich! Wohin das führen soll, ich weiß es nicht; mit banger Besorgniß sehe ich der Zukunft entgegen!“
So schrieb mir – es sind jetzt gegen zwölf Jahre her – ein Leipziger Studienfreund, und ich erinnerte mich sofort des Schlingels, der damals im zehnten Lebensjahre stehen mochte. So jung noch und doch schon so verdorben! Ich konnte den Schmerz meines Freundes begreifen. Er ist nicht wahr, nicht ehrlich – welche inhaltsschweren Worte sind das, welche traurigen Aussichten eröffnen sie!
Und dennoch! Die trüben Besorgnisse meines Freundes sind nicht in Erfüllung gegangen. Vor einigen Wochen führte mich eine Reise nach Leipzig; ich suchte meinen alten Studiengenossen auf und fand zu meinem Erstaunen und meiner Freude seinen Sohn als einen ernsten Jungen Menschen wieder, der in einem angesehenen Handelshause den Vertrauensposten eines zweiten Buchhalters einnahm und sich ebenso der Achtung seiner Vorgesetzten wie seiner Kollegen erfreute.
„Ich begreife Deine Verwunderung,“ sagte mein Freund. „Kennst Du das Pestalozzistift? Dorthin habe ich meinen Jungen gegeben. Es war ein schwerer Entschluß; aber was half’s? Es mußte sein! Dort ist er fünf Jahre geblieben, und als er die Anstalt verließ, da war ein Anderer aus ihm geworden, ein Besserer, ein Mensch, der sich für das Leben brauchbar erwies.“
Das Pestalozzistift! Ich hörte den Namen nicht zum ersten Male, ich kannte auch die in prächtiger Gegend am Rosenthal belegenen Anstaltshäuser; aber von dem Geiste, der in diesen Häusern herrschte, wußte ich bis dahin nichts. Der Leiter und die Pfleger der Anstalt arbeiten mit außerordentlichem Geschick und mit edler Aufopferung an ihrer schönen Ausgabe, diejenigen Kinder, welche irrend sich der Zucht des Elternhauses und der Schule nicht mehr fügen wollten, heranzubilden zu arbeitsamen, ordentlichen, nützlichen Menschen; aber die Anstalt arbeitet im Stillen, sie begnügt sich mit dem Bewußtsein der erfüllten Pflicht und verlangt keinen anderen Lohn, als den, welcher ihnen durch ihre gebesserten Zöglinge selbst wird. So ist sie weiteren Kreisen fast unbekannt geblieben. Durch meinen Freund lernte ich sie kennen, und was ich bei meinem Besuche über dieselbe erfahren habe, das will ich hier kurz mittheilen zur Orientirung und Aufmunterung für opferfähige Menschenfreunde auch in anderen Städten! Wie sagt doch der Dichter? „Eine schöne Menschenseele finden ist Gewinn, ein höh’rer, sie, die schon verloren war, zu retten!“ Irrende Kinderseelen giebt es überall; so schaffe man auch überall die Gelegenheit, sie unter eine geeignete fürsorgende Leitung zu stellen und in die rechten Bahnen zurückzulenken!
Das Pestalozzistift in Leipzig ist, wie schon angedeutet, eine Erziehungsanstalt für solche Knaben, welche sich der Zucht des Elternhauses und der Schule nicht willig fügen wollen. Der hundertjährige Geburtstag des Altmeisters der Pädagogik, Pestalozzi, gab am 12. Januar 1846 Veranlassung zur Gründung der Anstalt. Im Jahre 1853 wurde die Anstalt eröffnet, die also jetzt bereits 35 Jahre besteht. Mehrere hundert Kinder, welche einer straffen Zucht bedürftig waren, sind ihr anvertraut worden, und mit Freuden darf konstatirt werden, daß der größte Theil der Zöglinge, welche im zehnten bis fünfzehnten Jahre stehen, nach seiner Entlassung die Bahn des Guten nicht wieder verlassen hat. Das Pestalozzistift ist kein Korrektionshaus, sondern eine christliche Erziehungsanstalt, die auf gesunder religiöser Grundlage die sittliche und geistige Hebung der ihr anvertrauten Zöglinge mit allen Kräften erstrebt. Die Einrichtungen der Anstalt entsprechen einem gut bürgerlich geordneten Haushalt. Das Leben der Zöglinge wird durch eine gewissenhaft durchgeführte Haus- und Lebensordnung geregelt. Der derzeitige Direktor Th. Demuth, der sich mit warmer Hingabe für die Anstalt aufopfert, bildet mit den Zöglingen, welche die Zahl 45 nicht übersteigen dürfen, eine große Familie, in der jedes einzelne Kind nach seiner Eigenart behandelt wird. Seine Mitarbeiter sind der Hausarzt, die Lehrer sowie zwei militärisch geschulte Gehilfen und ein Gärtner, dem die Sorge für den großen, prächtigen Anstaltsgarten obliegt. Die Zöglinge stehen im Sommer um 5 Uhr, im Winter um 6 Uhr auf, reinigen zunächst selbst ihre Kleidungsstücke und begeben sich dann nach dem Waschlokal, das einfach und sauber eingerichtet ist. Früh erhalten die Zöglinge eine Milchsuppe, da die Erfahrung gelehrt hat, daß diese dem jugendlichen Körper zuträglicher ist als der Kaffee. Nach einer kurzen Morgenandacht beginnt im Sommer um 7 Uhr, im Winter um 8 Uhr der Schulunterricht. Er wird in der Anstalt ertheilt und steht wie in den öffentlichen Schulen unter Kontrolle der Bezirksschulinspektion. Das Schulziel entspricht dem einer Bürgerschule; es erhalten aber auf Wunsch der Eltern Knaben, welche geistig besondere befähigt sind und einem höheren Berufe sich zuwenden sollen, auch Unterricht in fremden Sprachen. Vor allen Dingen soll erstrebt werden, dem Schüler eine genügende, möglichst abgeschlossene geistige Bildung zu geben, damit er mit dem fünfzehnten Lebensjahre befähigt ist, sich jedem Berufe auf gewerblichem oder kaufmännischem Gebiete zu widmen oder in den Bureaudienst einzutreten.
Punkt halb 1 Uhr findet im Speisesaal das gemeinschaftliche Mittagsessen statt, dessen Kost kräftig und reichlich bemessen wird. Die Nahrung entspricht allen hygienischen Anforderungen. Die Schlafsäle liegen gesund und werden gut ventilirt. Da das Institut an der Pleiße liegt, so ist im Sommer auch für das Baden im Flusse ein geräumiges Zellenbad angelegt, in welchem täglich unter Aussicht gebadet wird. Im Winter erhalten die Knaben täglich ein Wannenbad. Die Leibeskräfte werden außerdem durch turnerische Spiele geübt. So weit die Nachmittagsstunden nicht durch Schulunterricht in Anspruch genommen werden, betreiben die Knaben in dem schon erwähnten großen Institutsgarten die Gärtnerei.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_274.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2024)