Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
|
Bilder von der Ostseeküste.
Die nordöstliche Grenzmark des Deutschen Reiches wird noch viel zu selten von Vergnügungsreisenden aufgesucht. Masuren mit seinen blinkenden Seespiegeln, nicht mit Unrecht die ostpreußische Schweiz genannt, die tiefen, sumpfigen Wälder an dem majestätisch dahinrauschenden Memelstrome, in denen noch das Elenthier haust, entbehren keineswegs fesselnder, landschaftlicher Schönheiten. Und nähert man sich erst der Seeküste, da werden die Formen interessanter, malerischer, da buchtet das Meer sich zu herrlich geschwungenen Golfen; da springen Steilhöhen weit hinaus in die Fluth, da schieben Haffbildungen, Süßwasserbecken, welche ein schmaler Dünengrat von der offenen See scheidet, sich zwischen diese und das hohe, lebhaft gegliederte Land. Der baltische Küstensaum der altpreußischen Stammprovinz bietet landschaftliche Schönheiten in Fülle.
Die Weichselmündungen bei Danzig, umrandet von bewaldeten Bergzügen, die einen weiten, herrlich profilirten Golf bilden, gehören zu den erhabensten Naturscenerien Mitteleuropas. Kaum minder schön sind die Uferlandschaften Elbings. Weiter nordostwärts leuchtet ein Wasserspiegel in grüner Landschaft auf. Das ist das Kurische Haff, von einer gewaltigen Düne umschlossen. Ein Dampfer trägt uns hinüber nach derselben zu dem Stranddörfchen Schwarzort, unserem Ziel. Nordischer, ernster, aber weit gewaltiger wirkt hier die ganze Umgebung; die liebliche Anmuth, die uns an den Elbinger Ufergeländen des Frischen Haffs entzückt, weicht hier einer an diesen Küsten kaum erwarteten Großartigkeit. Keine Uferberge, kein malerischer Abschluß liegen vor unseren Blicken, wenn wir von dem Dünendorfe Schwarzort aus mit Hilfe eines Fernrohrs über den Spiegel des Haff zum festen Lande hinschauen, grüner Frucht- und Wiesenboden, mit Bäumen und Häusern freundlich staffirt, breitet sich dort aus bis zum flachen Horizonte hin.
Hier zeigt die Landschaft ihr freundliches Gesicht. Eine heitere Kolonie, liegt Schwarzort am Haffufer, gelehnt an kräftigen Hochwald mit prachtvollen Tannen, Fichten und dichtem Wachholdergebüsch. Ein gothisches Kirchlein in rothem Backsteinbau hebt sich schmuck hervor auf dem grünen Hintergrunde; Fischerwohnungen, Bauernhäuser gruppiren sich um die Kirche; weiter verstreut im Grünen, auf kleinen Hügelrücken, inmitten zierlicher Gärtchen liegen Landhäuser, Villen idealisirte Schweizerhäuser, und überall ziehen während der Sommermonate Gäste hier ein, die sich an der milden, würzigen Fichtennadelluft erfreuen oder Bäder nehmen wollen im nahen Meere, von dem uns ein nur viertelstündiger Weg über die Düne trennt. In der nicht kleinen Zahl derartiger preußischer Sommerkolonien längs des baltischen Gestades ist Schwarzort wohl eine der jüngsten; es gehört aber zu den in klimatischer Hinsicht äußerst günstig gelegenen, zu den interessantesten und eigenartigsten; seine Reize lassen sich nicht mit denen irgend einer anderen vergleichen. Erst der Wald und die Düne erschließen uns dieselben.
Anderswo kennen wir die Düne als einen fest hingelagerten Wall von Sandbergen, der vor langen Jahrhunderten von den noch im Kampfe befindlichen Elementen zu ihrer eigenen Wehr aufgeworfen ist. Hier aber lebt und wandelt die Düne noch, und wo sie sich zur Ruhe begeben, da zeugen noch deutliche Spuren von der Heftigkeit des kaum beendeten elementaren Kampfes. Seestürme jagen Wolken der kleinen scharfen krystallischen Quarzkörner, aus denen der Dünensand besteht, durch die Atmosphäre. Hier finden diese Sandwolken irgend ein Hinderniß, eine Ablenkung von ihrer Bahn; es brechen sich die Wirbel, tiefe Trichter entstehen mit hohen schroffen Wänden, die cirkusartig in fast gänzlich geschlossenem Rund emporsteigen, einen Wiesenplan, eine mit saftigen Laubbäumen, oder eine mit den üppigsten Farren bedeckte Oase bildend. Hier wächst noch das seltene Kind der nordischen Flora, die Linea borealis, deren Ranken aus unserer Anfangsvignette dargestellt sind.
Dann aber wieder jagt die wandernde Düne über das Land und begräbt, was ihr in den Weg kommt. Immer weitere Strecken verschwinden unter ihren gierigen Angriffen, und wenn auch durch Anpflanzungen und andere Schutzwehren dem Verderben Einhalt geboten wird, so läßt es sich doch nicht gänzlich bezwingen. Die scharfen feinen Quarzkörner, die der Sturm mit wüthender Gewalt daherbläst, nagen, reiben, fressen an dem Baumstamm, den sie gänzlich tödten und begraben. Uebrigens soll man nicht annehmen, daß die ganze Düne, der hohe Sandwall also vorrückt. Der Grund liegt fest und schwer, nur die obere Decke vermag den Stürmen nicht zu widerstehen und fliegt verheerend durch die Luft. Die Cirkusbildungen, die wir aufsuchen entstammen natürlich früherer Zeit.
Die Dünenbildung auf der Kurischen Nehrung, dem schmalen Landrücken, der das Haff von der See trennt, ist von erhabener Schönheit. Einige Kämme und Kuppen in der Nähe Schwarzorts sind durch bequeme Pfade der Besteigung zugänglich gemacht. Von hier oben erst überschaut man das Chaos der Dünenwelt vollständig, blickt tief hinein in die seltsamen Formationen, die hier Sandmassen, Stürme und plötzlich hereinbrechende Naturereignisse geschaffen haben. Abgründe und wasserlose Schluchten, jene erwähnten arenaförmigen Kesseltrichter, geben den eigenthümlichsten Vordergrund. Kahle bleiche Sandwände, tiefer grüner Wald, der sich um Schwarzort am Haff ausbreitet, bringen einen Wechsel in die Farbentöne der Landschaft, der nach vermehrt wird durch einzelne röthlich schimmernde Sandfelder, die von feinen Porphyrkörnchen gebildet werden, und durch die Ausblicke über das weite Meer, auf den ruhigen Spiegel des Haff, auf das saftig grüne feste Land, auf die in der Sonne leuchtenden Thürme von Memel. Dieses heitere Panorama bekommt durch den Vordergrund allein seinen ernsten, wilden Charakter. Denn aus den chaotisch durch einander geworfenen Bergen und Thälern, Schluchten und Trichtern ragen noch gespenstig einzelne Baumleichen hervor, die starren Aeste emporstreckend, manche halb umgesunken, manche noch im Tode aufrechtstehend, den abgezehrten, der Rinde beraubten Körper von Luft und Sonne gebleicht, fast schreckhaft anzuschauen. Dieser landschaftliche Vordergrund giebt uns ein Neues, Ungeahntes, ein Stück wildester Romantik, mit dem die schmucke, von Hochwald und Wasser umgebene Strandkolonie Schwarzort mit ihren einladenden Häuschen anmuthig kontrastirt.
Von der Höhe haben wir schon einen Blick auf eine andere Ansiedelung geworfen, welche eines der großartigsten und eigenthümlichsten Industriewerke in diese idyllische Einsamkeit stellt. Drüben jenseit des Haffs hat man vor länger als einem Vierteljahrhundert Bernstein gefunden, langgestreckte Schichten, die, wie Untersuchungen ergaben, sich unter dem Grunde des Haffbodens fortsetzten. Man hat damals durch Baggerungen versucht, die Reichhaltigkeit des Lagers wie die Qualität des fossilen Harzes festzustellen. Zuerst wurde wenig gefunden; bald aber war das Ergebniß der Baggerei so ergiebig, daß aus den Versuchen ein festes industrielles Unternehmen wurde. Nun belebten Bagger den Spiegel des Kurischen Haffs, deren Zahl bis auf neunzehn gestiegen ist,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_301.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2020)