Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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Seitenwand füllten Buchstaben jeglicher Schriftart, Größe und Farbe, bald stramm wie Soldaten neben einander in Reih und Glied marschirend, bald wie Betrunkene durch einander taumelnd, während ein Apollo sie von oben wehmüthig betrachtete.
Die ganze Vorstadt unternahm an Sonn- und Feiertagen mit Kind und Kegel förmliche Wallfahrten zu dem Haushuberhause. Wenn sich gegen Abend der staunende Haufen verlaufen hatte, ging Florian hinunter. Aber er schöpfte nicht mehr wie ehedem unter seiner Hausthür Luft, sondern durchschritt die Gasse und lehnte sich an die Ecke des gegenüberstehenden Hauses. Dort schaute er zu seinem Werke empor und zupfte sich dabei aus alter Gewohnheit an dem linken Ohre, obzwar der Ohrring längst befestigt und das Löchlein im Läppchen schon verwachsen war.
Es hauste in der Nachbarschaft ein demokratischer Schuster, welcher kecklich die Behauptung aufstellte, daß die Köpfe in den Medaillons Karikaturen der Minister seien. Es gab ferner bösartige Naturen, welche versicherten, Apollo sehe ganz wie eine Vogelscheuche aus, die Allegorien seien eine wohlbezahlte Reklame für die Pfefferkuchenmännlein des benachbarten Lebzelters, und unter den neun Musen fänden sich acht Porträts der Damenkapelle im nächsten Kaffeehaus vor. Jene neunte Muse, welche nach Abrechnung der acht Porträts der Damenkapelle übrigblieb, trug in einer Hand die tragische Larve, in der anderen einen Dolch und stand auf einem so hohen Kothurn, daß sie, obzwar kleiner als ihre Schwestern, dieselben doch überragte. Diese neunte Muse kannten bloß die nächsten Nachbarn, welche das Urbild täglich mit der Mappe unter dem Arm durch das Thor des Haushuberhauses aus- und einschlüpfen sahen.
Jakobäa hatte alle die Herrlichkeiten einmal angesehen und seither nicht wieder: jene Melpomene hatte ihr ebenso die Thränen in die Augen getrieben wie das Bildchen der beharrlichen Eiche. Kopfschüttelnd blickte ihr Florian nach, wenn sie gesenkten Hauptes dahinging, und sagte sich ihre Worte vor: „Sie wissen ja nicht …!“
Nein, er wußte nicht, daß Theateragenten, Direktoren, Intendanten den zweiten Jahrgang der Schauspielschule besucht hatten, wo sie alljährlich gleich den Schwalben im Frühling wiederkehren. Es gilt, sich bei Zeiten eines hervorstechenden oder für den Augenblick eben notwendigen Talentes zu bemächtigen. Dabei war der Mehrzahl von Jakobäas Genossinnen bereits die nächste Zukunft gesichert worden; sie selbst staunte man an, man pries ihre Begabung, ihr außerordentliches Darstellungsvermögen, jedoch selbst von dem unbedeutendsten Provinzstädtchen erhielt sie keinen Antrag.
Der Frühling war vorübergegangen, die heiße Zeit kam und mit ihr die heiße Zeit der Prüfungen. Jakobäa errang dabei in allen Haupt- und Nebenfächern die Note „ausgezeichnet“. Sie zählte infolge dessen zu den wenigen, welche sich um einen Preis bewerben durften.
Das gegenseitige Verhältniß der auserlesenen Zöglinge, welche zu diesem „Konkurse für dramatische Darstellung“ zugelassen werden, ist in der Regel ein sehr gespanntes und gestaltet sich desto gereizter, je näher der Zeitpunkt der Entscheidung heranrückt. Der Kampf ums Dasein wird hier zum Kampf um die Rolle. So viele Mädchen da sind, so viele wollen das Gretchen spielen; jeder der jungen Männer will Faust sein. Es ist eine schwere Zeit für die Professoren, und dreifach gepanzert muß die Brust des Direktors der Anstalt sein: es wird zart oder deutlich angespielt, geschmeichelt , gebeten, gefleht, geweint, geschluchzt; es werden alte Onkel und noch ältere Großväter als Fürbitter aus Rumpelkammern hervorgezerrt – Kinder wimmern, Mütter irren! Ja, man zieht es sogar vor, gänzlich auszutreten, als in einer unbedeutenderen Rolle das vermeintliche Licht unter den Scheffel zu stellen. Dabei lehrt eine alte und jedes Jahr neu bewährte Erfahrung, daß dieser hartnäckige Kampf regelmäßig einer Rolle gilt, welche für den betreffenden Zögling am wenigsten taugt. Endlich beschließt all dies nervenauszehrende Ringen die Preisbewerbung in einer öffentlichen Vorstellung. Neben dem Publikum, das sich für die Sache interessirt, findet sich zu solchen Konkursvorstellungen auch ein merkwürdiges Häuflein zusammen, welches nur der Personen wegen da ist. Dasselbe bildet sich freiwillig oder gezwungen aus den Verwandten der Zöglinge und aus den Verwandten dieser Verwandten in ungezählten Seitenlinien. Ja, Kousins und Kousinen, deren Vorhandensein und Zweck auf dieser Erde sonst gar nicht in Betracht gekommen ist, gewinnen hier eine gewisse Berechtigung für ihr Dasein und einen Lebensberuf. Alles das hat nun, wie jener Römerlegat in der Mantelfalte, Krieg und Frieden im Salonrock oder im Seidenkleid beisammen: Frieden für die Ihrigen, Krieg für die Anderen, unbarmherzige Härte gegen fremdes Blut, zerfließende Nachsicht für das ihre.
Als Jakobäa auftrat, da war es ganz wie bei jener Talentprüfung: erst das Lächeln auf allen Gesichtern, das Kopfschütteln, Achselzucken, ja selbst das Wort von der „Kinderkomödie“ und die „zu starke Zumuthung“ blieben nicht aus. Dann dasselbe Verstummen, Starren, Hangen und Bangen, und endlich das Mitgerissenwerden trotz Kousin und Kousine, Tante, Onkel und Schwager. Jakobäa ward einstimmig der erste Preis zuerkannt; außerdem erhielt sie die höchste Auszeichnung, welche das Wiener Konservatorium zu vergeben hat, die silberne Medaille.
Die Anderen zogen dann mit ihren zweiten Preisen oder ohne Preise nach Berlin, Dresden, Hannover oder auch nach Iglau, Hollabrunn und Mödling. Jakobäa allein blieb in Wien und saß mit ihrem ersten Preis und der silbernen Medaille daheim in ihrem Stübchen. Man suchte ihr von seiten des Konservatoriums unter die Arme zu greifen. Sie sollte trotz ihrer ausgezeichneten Studien noch ein Jahr im Konservatorium verbleiben; man wollte den Versuch machen, sie in andere Rollen zu drängen. Vielleicht war späterhin, wenn sie doch noch ein wenig wuchs, eher eine Thätigkeit auf der Bühne für sie denkbar, etwa als naiver Backfisch oder als halbflügges schnippisches Kammerkätzchen. Aber es war umsonst: es stak nur eine Klangfarbe in ihrem Organ, nur eine Darstellungsform in ihrem Wesen – die tragische. Der Versuch zum Gegentheil machte sich gerade so, als ob man einen im Gewölke kreisenden Adler hätte so zähmen wollen, daß er als niedliche Bachstelze mit Trillern, Schwirren, Balanciren schnippisch oder kokett an Vergißmeinnichtufern hin- und hertripple. Dann tauchte von der Seite eines Gönners und Förderers der Vorschlag auf, ihr ein Wartegehalt auszusetzen, damit man sie nach einigen Jahren, wenn sie gesetzter geworden wäre und an pädagogischem Ansehen gewonnen hätte, als Vortragsmeisterin, als Lehrerin des dramatischen Vortrages für die weiblichen Zöglinge anstelle. Es war dies eine Neuerung; aber alle maßgebenden Persönlichkeiten sprachen sich sofort einstimmig dafür aus in Anbetracht dieser genialen Begabung, um die es jammerschade wäre, wenn sie gänzlich brachliegen sollte. So konnte sie gleichsam als Propfreis auf geringeres Gewächs gepflanzt, doch wenigstens an anderen eine veredelte Frucht hervorbringen. Aber Jakobäa wollte davon nichts hören; sie mochte sich nicht binden; noch war nicht jede Hoffnung in ihr erstorben. Sie schickte ihre Konservatoriumszeugnisse und ihr Diplom an den Direktor des Theaters in Baden bei Wien. Sie wußte, daß er sie nicht spielen lassen würde, wenn sie sich persönlich vorstellen würde; aber die Feder in der Hand giebt wie der Säbel auch dem Verzagten Muth.
Die Antwort kam telegraphisch und lautete: „Heute noch kommen, spielen, Tragödin erkrankt, Direktor.“
Jakobäa fuhr sogleich nach Baden. Als der Direktor sie sah, bekam er bei seiner ohnedies verzweifelten Stimmung Lust, in die weite Welt davonzulaufen. Aber die Mittagszeit war vorüber, das Auftreten des Gastes bereits angezeigt; es ließ sich nichts mehr ändern – er ließ dem Verhängniß freien Lauf.
Am nächsten Morgen redete man in sämmtlichen Schwefelwasserbädern und Kaffeehäusern Badens von dem gestrigen Theaterskandal. Ueber die Rücksichtslosigkeit des Direktors gab es nur eine Stimme: ein kleines Mädchen, das vielleicht in einigen Kinderkomödien mitgewirkt, dem Badener Kurpublikum als Gast in einer Hauptrolle vorzuführen und überdies eine Klaque dafür zu bezahlen daß sie jedes Zeichen des Mißfallens mit Thätlichkeiten verstummen mache – es war unerhört!
Diese sofort in Tätlichkeiten ausartende Klaque bestand aus Herrn Florian Haushuber, welcher dreißig Minuten nach Jakobäa vom Südbahnhof nach Baden gefahren war, obzwar sich dieselbe die Begleitung von Fräulein und Herrn Haushuber dringend verbeten hatte. Aber den früher so ruhigen Florian quälte eine seltsame Unruhe, die ihn jetzt regelmäßig hinter Jakobäa einhertrieb, so oft sie ausging. Im Sommertheater des Badener Kurparkes hatte er sich, um von Jakobäa nicht bemerkt zu werden,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_304.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2018)