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Seite:Die Gartenlaube (1888) 313.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Aus der Reichshauptstadt. [1]
2. Arbeit und Verkehr.
Von Paul Lindenberg.       Mit Illustrationen von P. Bauer u. A.

Potsdamer Platz mit Blick zur Leipzigerstraße.

Wenn jemals eine Stadt verstanden hat, plötzlichen Umwälzungen und Anforderungen, welche durch überraschende politische Ereignisse zu Werke gebracht wurden, gerecht zu werden, und zwar in verantwortungsreichster Weise, so ist es Berlin. Vor dem deutsch-französischen Kriege, der für Preußen und seine Bundesgenossen ungeahnte Folgen hatte, war Berlin eine Hauptstadt mit mehreren hunderttausend Einwohnern, wie es deren verschiedentlich, wenn auch nicht ganz so große, gab. Man legte der Residenz, die noch dazu in „des heiligen römischen Reiches Streusandbüchse“ lag, keine besondere Bedeutung bei; die Blicke sehr vieler innerhalb der schwarz-weiß-rothen und selbst der schwarz-weißen Grenzpfähle waren weit mehr und weit intessirter nach Paris, nach London und nach Wien gerichtet, als nach Berlin, dem man so wie so nicht recht gewogen war, welches man theils mit mißgünstigen, theils mit verächtlichen oder spöttischen Augen betrachtete. Viele verstanden absolut nicht, wie man auf die Dauer hier leben konnte, wie man sich hier wohl zu fühlen vermochte, und so manchem Beamten geschah durchaus kein Gefallen damit, wenn ihm seine Versetzung nach Berlin bekannt gemacht wurde.

Die gewaltigen Erfolge des deutsch-französischen Krieges zerstörten mit wuchtigen Schlägen den provinziellen Schlaf, der bisher Berlin umfangen hatte. Aus der preußischen Hauptstadt war mit einem Male eine deutsche Kaiserstadt geworden; auf hoch erhobenem Haupte trug Berolina das blutig errungene Kleinod der deutschen Einigkeit und zeigte sich würdig der so unversehens eingetretenen Aenderung. In jugendlichem, siegreichem Thatendrang reckte und streckte sich nun die Stadt aus; in ungeahntem Maße nahm die Bevölkerung zu und vermehrte sich in einem Jahrzehnt – von 1871 bis 1881 – um mehr als 330 000 Seelen; tausend und abertausend Hände regten sich unermüdlich, um das Gewand der Stadt zu verbessern und zu schmücken, ganze Straßentheile verschwanden und machten vornehmen Neubauten Platz, gewaltige Fabrikanlagen erwuchsen fast über Nacht; die Industrien aller Art nahmen glücklichen Aufschwung; das Kunstgewerbe blühte empor, für die Bildungsanstalten, für die gelehrten und künstlerischen Sammlungen wurde das Höchste gethan; immer mehr konzentrierte sich hier die Gelehrten-, die Schriftsteller-, die Künstlerwelt; ein flottes, frisch pulsirendes Leben, der Drang nach vollendeten Leistungen herrschte und herrscht noch allerorten und bildet für jeden aufmerksamen Beobachter einen merkwürdigen Reiz des längeren Berliner Aufenthaltes. Und auch mit Werken der Kunst schmückte sich die Stadt; neue Denkmäler gesellten sich zu den alten, und die Friedenssäule auf dem Belleallianceplatz (vergl. S. 316) wurde durch die Siegessäule am Königsplatz übertroffen.

Wodurch aber konnten diese weitgesteckten Ziele erreicht werden? Nur durch Arbeit, durch unablässige, unermüdliche Arbeit! Schwerlich trifft man auf dem gesammten Kontinente eine Stadt, wo derartig viel gearbeitet und gefördert wird wie in Berlin. Die in den anderen Weltstädten wohlbekannte Species der vornehmen Nichtsthuer findet man in Berlin nicht so häufig; das Pflaster scheint hier für den Müßiggang zu heiß zu

  1. vergl. S. 107 dieses Jahrganges.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_313.jpg&oldid=- (Version vom 29.2.2024)
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