Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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sein, man zeigt auch deutlich jedem Tagedieb, wie wenig man von ihm hält. Dieser allgemeine Drang nach Thätigkeit, nach Beschäftigung fällt stets den Berlin besuchenden Ausländern am meisten auf; sie fühlen sofort, welch frischer Pulsschlag hier herrscht, wie jeder Erfolg ausgenutzt wird, um auf ihm weiter zu bauen und nach neuen Vortheilen und Triumphen zu streben.
Wer nur von Zeit zu Zeit nach Berlin kommt, der wird immer wieder erstaunen über das Wachsthum des öffentlichen Verkehrs in den belebteren Gegenden, und wenn er noch das Berlin von 1870 kennt, jenes Berlin mit seiner die Stadt auf ebenem Boden durchkreuzenden Verbindungsbahn, jenes Berlin mit seinen weit von den Centralpunkten abliegenden Bahnhöfen und innerhalb der engeren Stadtgrenze noch absolut „pferdebahnlos“, der wird über die schleunige und vortheilhafte Metamorphose sein ehrliches Bewundern nicht verhehlen. Was ist das für ein emsiges Hasten und Treiben auf allen Straßen und Plätzen, ein ewiges Hin und Her , eine stete Unruhe, ein fortwährendes Drängen und Eilen, Menschenmassen, wohin der Blick fällt, hier vor den lockenden Schaufenstern sich stauend, dort bei den Straßenübergängen sich sammelnd, da neugierig in dichten Scharen wegen irgend einer Kleinigkeit – eines gefallenen Pferdes, eines zerbrochenen Wagens, eines arretirten Umhertreibers wegen – Posto fassend und nicht von der Stelle weichend, bis sich die Sache abgespielt hat!
Ebenso lebhaft wie auf dem Trottoir ist der Verkehr auf dem Damme; unermüdlich rasseln und rollen die Wagen der mannigfachsten Art an einander vorüber, und oft genug müssen die in den frequentirteren Gegenden aufgestellten reitenden Schutzleute energisch eingreifen, um Verwirrungen zu hindern oder zu lösen.
Wenn wir einen kurzen Ueberblick des Berliner Verkehrs und seiner Entwicklung geben, so können wir unseren Ausgangspunkt vom Potsdamerplatz nehmen, auf welchem am 21. September 1838 ein reges Leben herrschte; denn von dem unscheinbaren kleinen Eisenbahngebäude aus, welches hier stand, sollte der erste Zug oder, nach damaligem Ausdrucke, der erste „Dampfwagen“ nach Zehlendorf – denn weiter ging die Berlin-Potsdamer Eisenbahn noch nicht – abgelassen werden. Freilich sah der Platz damals anders aus; nur die Schinkelschen Wachtgebäude standen schon da und bildeten gewissermaßen den Eingang in die Stadt, denn von hier ging die Chaussee nach Potsdam, zunächst durch Gartenanlagen, dann durch wüstes Feld, und auch nur von einer Art Vorstadt war absolut nicht die Rede: kleine Land- und Gartenhäuschen waren sichtbar, und die Berliner zogen auf Sommerwohnung dorthin, wo sich heute ein von Hunderttausenden bewohnter, vornehmer Stadttheil erstreckt Die Leipzigerstraße, heute zu den schönsten Berlins zählend, sah damals öde und nüchtern aus; denn sie war zumeist besetzt von den unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. errichteten soliden, aber monotonen Häusern.
Die Eröffnung der Potsdamer Bahn hatte zunächst keinen besonderen Aufschwung für die Stadt zur Folge, denn sie enttäuschte nicht unbeträchtlich die hochgespannten Erwartungen vieler, wie sich andere wieder schadenfroh dieses Mißerfolges freuten. Gab es doch genug gebildete Menschen in Berlin, welche auch nichts, gar nichts von dem neuen Unternehmen erhofften und ihm ein baldiges, seliges Ende prophezeiten. Zu diesen gehörte der Generalpostmeister von Nagler, welcher der Eisenbahn jegliche Rentabilität absprach und meinte: „Dummes Zeug! Ich lasse täglich diverse sechssitzige Posten nach Potsdam gehen, und es sitzt niemand drinnen! Wenn die Leute ihr Geld absolut loswerden wollen, so mögen sie es doch gleich lieber zum Fenster hinauswerfen, ehe sie es zu solchen unsinnigen Unternehmungen, wie zu einer Eisenbahn, hergeben.“
Der gute brave Oberpostmeister! Er würde sich recht wundern, wenn er heute mit uns durch Berlin spazierte und die kolossalen Bahnhofshallen, von deren schwindelnd hohen Decken des Abends und Nachts das elektrische Licht Tageshelle verbreitet, erblickte und dabei erführe, daß Berlin vierzehn derartige Bahnhöfe zählt, daß die Ringbahn wie ein eisernes Netz Berlin umgiebt und die Vororte in bequemer Weise mit einander verbindet, aber als einen Höllenspuk würde er es ansehen, wenn plötzlich an ihm oder über ihm rasselnd und donnernd die Züge der Stadtbahn wegbrausten und wir damit die Mittheilung verbänden, daß man aus dem Mittelpunkte Berlins jetzt in weniger als einer halben Stunde die schattenspendenden Hallen des Grunewalds oder die blauen Fluthen des Müggelsees erreichen kann.
Ja, der Stadtbahn ist schnell eine der bedeutendsten Rollen im Berliner Verkehrsleben zugefallen; täglich verkehren nicht weniger als 450 Züge, deren Zahl an schönen, von der Witterung begünstigten Sonn- und Festtagen noch erheblich wächst. Man muß dann den Andrang zu den verschiedentlichen, schmuck ausschauenden Bahnhöfen sehen, das Gekribbel und Gewimmel auf den breiten, luftigen Perrons, den Lärm und die Unruhe; von der die nicht beneidenswerthen Beamten umtost werden! Und das geht von früh bis spät; unerschöpfliche Menschenkarawanen wollen in das Freie befördert werden, wollen den Bann der Stadt verlassen und sich von anstrengender Werktagsarbeit ungezwungen und fröhlich erholen und dieser ungeheure Andrang, besonders im Sommer, macht es uns begreiflich, daß allein während des letzten Jahres die Stadtbahn von etwa vierzehn Millionen Menschen benutzt wurde. Diese Zahl würde um das Fünffache steigen, wenn die Bahn eine wesentliche Ergänzung durch einen Nord-Süd-Ring – der jetzige geht nur von Osten nach Westen – erführe und damit ihr Schienennetz über ganz Berlin ausbreitete. Man hört so auch, daß einem derartigen Plan von zuständiger Seite bereits nahegetreten worden ist; die Mittheilung einer baldigen Verwirklichung würde jubelnde Aufnahme finden.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_314.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2016)