Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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Da lag sie nun, schmal, zart, klein, die arme Hülle, welche den stürmenden Geist beengt und gequält hatte, bis er sie abwarf und hinschleuderte. Das lange Haar war aufgelöst und schlängelte sich an der Gestalt hinab; es wäre überlang gewesen für ein sehr großes Mädchen. Das Antlitz lag auf dem Kissen, wie ein großes Buch der Schmerzen aufgeschlagen, niedergeschrieben in jener Sprache und Schrift, die jedem Erdgeborenen wohlbekannt und verständlich ist: da waren die abgehärmten blassen Wangen, die bleichen Lippen mit dem wehen Zucken um die Mundwinkel, die tiefdunklen Schatten unter den Augen, die eingesunkenen Schläfen, die senkrechte Furche an der kreideweißen Stirn mit den eng zusammengerückten Augenbrauen.
Florian las lange nachdenklich in diesem offenen Buche. Dann hielt er Umschau in dem Raume, der ihm ganz fremd war. Auf dem Tische lag die giftgeschwollene Besprechung ihres Auftretens in Baden und dicht daneben Grillparzers „Sappho“.
Auf dem Boden stak Jakobäas offenes Federmesser mit der Spitze in der Diele zunächst der Thür festgebohrt. Florian schlich auf den Fußspitzen hin, um es aufzuheben; indem er sich dabei emporrichtete, blieb sein Auge an dem Thürpfosten haften. Dort war noch ein zweites Buch aufgeschlagen, welches jenes Schmerzensbuch ihres Antlitzes ergänzte und erläuterte. Dies Dokument war ein graugelber Thürpfosten, daran mit dem Messer wagrechte Strichlein eingeritzt waren, jegliches mit einem Datum versehen. Es war das Kerbholz, welches sich die arme Seele für das Wachsthum des Leibes angelegt hatte. Aber es war kaum eine Entwicklungsgeschichte, sondern eher die Schilderung eines Stillstandes mit leisen Schwankungen, die anschauliche Darstellung eines chronischen Leidens. Ein Strich zog sich haarscharf über dem anderen, zuweilen auch ein zweites Mal verzeichnet gerade auf dem anderen, so daß beide zusammen bloß einen Ritz bildeten, der nur doppelt tief und etwas breiter war. Ein einziges Mal zeigte sich ein merklicher Fortschritt; er begann unmittelbar nach dem Datum. „19. September“. Das war der Tag, da sie in das Konservatorium aufgenommen worden war: die Aussicht, ihr Ziel erreichen zu können, hatte sie von innen heraus gehoben, gehöht. Sie hatte nun nach einem festen Punkte auszuschauen, sowie der Wanderer sich streckt, um nach dem Pilgerziel Ausschau zu halten, das in der Ferne empor taucht. Dann aber war es wieder damit vorbei. Zu höchst glänzte ein grauer Bleistiftstrich, der einzige unter allen den weißen Messerritzen. Neben ihm stand auch kein Datum, sondern ein Ausrufungszeichen. Ein Befehl also, ein Gelübde: bis hierher hatte sie sich vorgenommen zu wachsen. Ich muß! hatte sie zu sich selbst gesagt und ein Ausrufungszeichen daneben hingestellt – kein Fragezeichen, kein „ob“, kein „vielleicht“. Auch war es kein unbescheidenes, kein himmelstürmendes Begehren; selbst wenn sie zu jenem Bleistiftstrich emporgewachsen wäre, so blieb sie darum immer noch kleiner als die kleinste ihrer Genossinnen. Der letzte Ritz, noch ganz frisch aus dem Holze schimmernd, stand jedoch tief unter jenem grauen Ausrufungszeichen; darum war zuerst das Messer, das ihn geschnitten hatte, fortgeschleudert worden und dann der träge Körper. Hatte sie es nicht ertragen können, daß sie sich selbst nicht Wort gehalten hatte? Der Gutmüthige in jenem Richterkreis bei der Talentprüfung hatte Recht behalten. An diesem Thürpfosten stand die Rechnung über die Quaresima des Barnabo Visconti verzeichnet, und obenan der letzte Ritz verbuchte jenen vierzigsten Tag, an dem die Verstümmelung das Herz erfaßt.
Florian stand da und maß und las in dem Buche, welches nur aus Strichlein bestand, und doch jedes derselben so deutlich sprechend, jedes die Hieroglyphe für einen langen schmerzlichen Monolog der Enttäuschung nach der Hoffnung, der Verzweiflung nach zaghaftem Wagen, des Ringens der Seele mit dem trägen Widerstand des Stoffes.
Da schlug Jakobäa langsam die Augen auf – Florian schlich leise und unbemerkt hinaus. Die Nacht hindurch wachte die Tante an Jakobäas Bett, Florian kam gleichwohl einmal um Mitternacht und einmal bei dem ersten Dämmergrauen herüber, um zu fragen, wie es gehe. Am folgenden Nachmittag durfte Jakobäa schon das Bett verlassen. Sie saß in dem großen Lehnstuhl, welcher sonst in dem Atelier stand, wo ihn die Riesengestalt Florians gerade füllte. Jakobäa kauerte ganz verloren in dem ungeheuren Möbel, als ob sie eben nur ein niedlicher Zierat desselben wäre. Fräulein Nina saß daneben in der gewohnten kerzengeraden Haltung, ohne sich anzulehnen, las ihr aus der Zeitung vor und redete dann wie sonst über die Vorkommnisse des Tages. Mit keinem Worte rührte sie an Jakobäas Unglücksthat; mit keiner Miene zeigte sie, was sie davon hielt und was ihr Herz darüber gefühlt hatte. Sie that und sprach, als sei nichts, gar nichts geschehen, als sei Jakobäa eben nur erkrankt, schwach, und darum doppelter Liebe und Pflege bedürftig.
Anders war es um Florian bestellt. Er brachte es mit dem besten Willen nicht zu Stande, seine Miene so zurechtzulegen wie die Tante, und da er jetzt eintrat, um nach der Kranken zu fragen, erblickte Fräulein Nina mit Schreck die tiefen Grimmesfalten auf seinem sonst so wohlwollenden Gesichte. Schnell stellte sie sich vor den Lehnstuhl, damit Jakobäa in ihrer Schwäche nicht unter diesem Anblick leide. Aber es war zu spät; Jakobäa hatte ihn schon erblickt und wußte in demselben Augenblicke, wie tief verletzt und erzürnt er war. In einem Blick hatte sie seine Gedanken und Gefühle erfaßt mit der Intuition des schauspielerischen Genies, welches, gewohnt mit der Miene ebenso darzustellen wie mit dem Worte, den Gesichtsausdruck aus anderer Antlitz fließend abzulesen versteht. In diesem Falle war auch kein besonderer Scharfsinn nöthig, um seine Gemüthsverfassung untrüglich zu errathen: der gute Mensch war kaum zu erkennen. Kaum hatte er gesehen, daß Jakobäa nicht schlief, als er, ohne ein Wort zu sagen, auf den Fußspitzen wieder hinausging.
Jakobäa blickte trübselig vor sich hin zur Erde. Fräulein Nina griff ihr unter das gesenkte Kinn, lächelte ihr zu und sagte: „Den Kopf in die Höhe! Munter sein, Aea!“
Aber Jakobäa ließ den Kopf nur noch tiefer sinken und statt der Munterkeit kamen große Thränen. „Sie sind so gut und herzlich gegen mich,“ stammelte sie, „und ich verdiene es so gar nicht! Sie umgeben mich mit Ihrer Liebe und Treue wie ein eigen Kind … und ich … ich habe mich davonschleichen wollen wie eine Diebin, wie eine feige Diebin, die Ihnen Ihr Herz, Ihre Liebe gestohlen hatte.“
Fräulein Nina war plötzlich etwas in das Auge gefallen, und da sie es trotz krampfhafter Anstrengungen nicht herausbekommen konnte, eilte sie nach dem sicheren Zufluchtsort aller ihrer unterdrückten Worte und Gefühle, in die Küche vor das spiegelblanke Kupfergeschirr.
Bald darauf steckte Florian den Kopf herein und sagte: „Tante, wo ist denn die Magd? Sei so gut, sie zum Materialisten zu schicken! Ich brauche noch graue Farbe.“
Als aus der Abenddämmerung des Stübchens keine Antwort zurücktönte, ward die Thür etwas weiter aufgethan.
„Herr Haushuber!“ rief eine leise Stimme.
Er trat ein. Er hatte einen Werkschurz vorgebunden; in der Hand hielt er einen großen Anstreicherpinsel, der ganze Mann war von aschgrauer Oelfarbenflecke.
„Herr Haushuber!“ klang es noch einmal.
Er ging bis zu dem Lehnstuhl und sagte: „Wo ist denn die Tante? Wollen Sie etwas, Fräulein Almer?“
Sie schrak zusammen. So bitterböse war er nie gewesen, so verstimmt nie sein Ton, so fremd hatte er sie nie genannt.
„Herr Haushuber,“ stammelte sie zaghaft und leise – „ich habe Sie um Verzeihung bitten wollen … erstens um Verzeihung … und dann auch Ihnen danken wollen … danken von ganzem Herzen …“ sie tastete nach seiner Hand und preßte sie weinend an ihre bebenden Lippen.
Er ließ ihr die Hand und sagte ernst. „Wissen Sie, Fräulein Almer, was ich gethan hätte, wenn ich Sie nicht herausgefischt hätte? Ich will es Ihnen sagen: ich wäre mit Ihnen ertrunken. So, jetzt wissen Sie es, und ich habe Ihnen das bloß für künftighin gesagt, wenn Sie vielleicht wieder einmal Lust zu dergleichen bekommen sollten.“
Sie war bei diesen Worten zusammengezuckt und hatte seine Hand schnell mit allen zehn Fingern umschlungen. So hielt sie dieselbe krampfhaft fest, wie um ihn zurückzuhalten vor dem Ertrinken. „Nein, nein!“ schrie sie plötzlich auf und starrte mit weitgeöffneten Augen auf den Boden als sähe sie das Entsetzliche vor sich, wie er bleich und todt daliegt.
„Nein?“ wiederholte er. „Da sehen Sie also selbst, mit dem sich selber Umbringen ist es nichts! Sie wissen jetzt, ich gehe mit: es wäre Selbstmord und zugleich Mord. Mit dem
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_318.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2018)