Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
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Von dem Tische mit den schwarzgekleideten jungen Leuten ertönten Guitarrenmusik und national schwungvolle Weisen. Die nach Hunderten zählende Zuhörerschaft lauschte so gespannt und lautlos, daß man in den Pausen hätte eine Stecknadel zur Erde fallen hören können. Da plötzlich stand Inesilla vor freudigem Schreck das Herz fast still, denn dicht bei ihrem Tische erblickte sie Pablo, der sich nach einem leeren Stuhl umschaute – jetzt wandte er sich um und bemerkte Inesilla bei ihrem Vater – er wurde purpurroth.
Inesilla rückte mit ihrem leeren Sessel; Don Lorenzo tupfte den jungen Mann auf den Arm und wies auf den Stuhl, und Pablo nahm ganz verwirrt unter einer tiefen Verbeugung Platz. Nach einigen Minuten, in welchen die jungen Leute in bedrückter schwüler Stille neben einander saßen, reckte Don Lorenzo den Kopf und blickte gewohnheitsgemäß nach seinem Laden hinüber; er sah ihn voller Leute und den Lehrbuben allein dort hastig herumhantiren, weshalb er sich erhob, seiner Tochter einige Worte zuflüsterte und dann, auf den Zehen durch die Tischreihen schreitend, seinem Geschäftslokal zueilte.
Inesillas Gesicht verklärte sich in geheimer Freude, während Pablos Gesichtszüge eine gewisse Aengstlichkeit und Unruhe zeigten. Das Mädchen drückte Pablo unter dem Tisch die Hand und bestellte bei dem Kellner, den Fächer vor dem Mund, eine „kleine“ und eine „ ganze“ Chokolade – die letztere präsentirte sie durch einfaches Umdrehen des Brettes ihrem Freund. Dann zog sie ein Schächtelchen Cigaretten aus der Tasche, setzte dies außerordentlich geschickt, daß niemand anders es bemerken konnte, vor Pablo hin und ermunterte ihn durch einen Wink, sich zu bedienen; sie selbst nahm für sich ein ganz kleines, feines Päckchen, das ihre Sorte enthielt, aus ihrem zierlichen Pompadour, zündete eines der Röllchen an und rauchte ganz glückselig.
Etwas verlegen – aber ohne sich anders helfen zu können, nahm Pablo das dargebotene Geschenk und brannte gleichfalls eine der großen, fein eingewickelten Cigaretten an.
Die Musik spielte munter und die beiden Liebesleute rauchten und fühlten ihre Herzen im Einklang mit den Worten des Dichters und den Tönen der Canzonetten.
Hätte Inesilla nun Französisch verstanden und gewußt, was das für Cigaretten waren, die sie ihrem Freunde anbot, und hätte Senior Pablo Verros eine Ahnung davon gehabt, was Cañamo-Cigaretten bedeuteten und welche Wirkung sie ausüben könnten, wenn man viel davon und dazu noch aufgeregt raucht, dann wäre diese wahrhafte Historie ungeschrieben geblieben und die Welt wüßte höchst wahrscheinlich nichts von Pablo und Inesilla in Salamanca und wie es ihnen ergangen. Pablo aber war ahnungslos und rauchte in tiefen Zügen.
Der Tabak war herrlich; er hatte noch nie solchen Duft gerochen und die Cigaretten besaßen einen so eigenen feinen Geschmack, und es ward ihm so wohl, so leicht, so frisch, so stark und heiter zu Muth, während er rauchte. Er brannte sich die zweite, dritte, vierte und fünfte an. Sein Herz schwoll vor Lebenslust und Lebensmut; die ganze Welt vor ihm verwandelte sich in ein Paradies. Alle Menschen bekamen Flügel und erhoben sich als Engel; eine Sphärenmusik ertönte vor seinen Ohren; sein liebekrankes Herz wurde von einer stürmischen Zärtlichkeit erfüllt, und diese gehörte dem wunderbaren Mädchen, das schon lange all sein Denken und Sinnen ausmachte und das da vor ihm saß und ihn so ermunternd und verheißungsvoll anschaute. – Die ganze irdische Welt versank unter ihm – er war plötzlich allein auf rosigen Wolken in ätherreinen, lichtdurchflutheten Himmelshöhen, und vor ihm stand Inesilla süß lächelnd erwartungsvoll … Ein Riesenmuth erfüllte seine Seele, er umschlang das Mädchen und gab ihr lange, süße Küsse … Da schlug ein dumpfer Schrei an seine Ohren – er wurde gewaltig gerüttelt; nicht paradiesische Stimmen umtosten und umbrausten ihn; man schien ihm sein Glück, seine Inesilla rauben zu wollen, doch er hielt sie eisenfest.
„ Pablo,“ ertönte es jetzt, „um der Liebe Gottes willen, Pablo, laß mich los! Wir sind ja auf der Straße, vor tausend Augen – Pablo, Du bringst uns beide in Schande und ich vergehe vor Scham!“
War das nicht die Stimme Inesillas, die so rührend bat und flehte?
Er öffnete die Arme und taumelte auf seinen Stuhl zurück. Ein dunkles Gefühl von etwas Schrecklichem, Unerhörtem, von etwas Ungeheurem, das er gethan, begann auf ihm zu lasten.
Seine Kollegen waren bei dieser merkwürdigen Scene zu ihm geeilt; sie wußten, daß er lange krank gewesen – war er jetzt plötzlich wahnsinnig geworden? Sie umstanden ihn, theilnahmsvolle Fragen an ihn richtend.
Ganz Salamanca war erstaunt über das, was sich da eben zugetragen. –
Es war aber auch etwas ganz Außergewöhnliches, das sich vor den Augen der Zuschauer also abspielte: eine Pause in der Musik war eingetreten. Die allgemein beliebte, kluge und tugendhafte Inesilla hatte sich eben erhoben, um, geleitet von ihrem Tischnachbar, wie das üblich, während der Pause vor den Tischen auf und ab zu promeniren – da hatte der Student, welcher den Ruf des sittsamsten und bescheidensten der ganzen Stadt genoß, plötzlich die Arme ausgebreitet, das Mädchen vor aller Welt an seine Brust gezogen, geküßt und sie so fest in seinen umschlingenden Armen gehalten, daß weder der Vater, der vom Laden aus diese Scene erblickte und voll Wuth herüberstürzte, noch viele andere Leute, die herzusprangen, im ersten Augenblick das vor Schreck halb todte Mädchen von dem Studenten befreien konnten.
War das nicht ein Ereigniß wie in einem Märchen? Befand sich Inesilla bei dem Ueberfall in einer furchtbaren Angst und Aufregung, so war die ihres Vaters nicht kleiner; jedoch galt diese zum wenigsten dem, der seine Tochter so unverschämt umarmt und geküßt hatte.
Don Lorenzos Gesicht war nämlich während des Ringens mit dem Studenten an dessen Mund gekommen und wie ein alles erleuchtender, aber auch eine furchtbare Gefahr ihm entdeckender Blitz war es ihm durch die Seele gefahren, daß der Student nach seinen so ängstlich geheimgehaltenen Hanfextraktcigaretten roch. Keine anderen hatten diesen Geruch – und nun wußte er sofort, wie das Seltsame hatte geschehen können. Seine Tochter mußte von den Cigaretten genommen und davon dem Studenten gegeben haben – der Mensch sah schwach und blaß aus, hatte sicher viele geraucht und einen starken und ganz eigenthümlichen Rausch bekommen. Das ging blitzschnell durch Lorenzos Kopf und rief in ihm eine gewaltige Angst und Sorge hervor. Er mußte schleunigst darüber Sicherheit haben, ob sich die Sache wirklich so verhielt – um von seinem Geheimniß retten zu können, was noch zu retten war.
Jetzt stand seine Tochter angstbleich und weinend in dem Laden, vor ihr Lorenzo, der von der Anstrengung des Kämpfens, Laufens und vor Schreck und Sorge nach Athem rang.
„Du hast von den Cigaretten aus meinem Zimmer genommen,“ brachte er endlich hervor. Seine Ladenthür hatte er sorgfältig verriegelt und die Neugierigen hinausgedrängt, sodaß er mit seiner Tochter allein war.
„Ja, Vater – ich hielt sie für gut und ich liebe ihn.“
„Wen liebst Du?“ fragte Don Lorenzo.
„Den Studenten, einen edlen, klugen, gelehrten Menschen, Pablo . . .“
„Du hast diesem Studenten von jenen Cigaretten gegeben?“ forschte Don Lorenzo dringlichst weiter.
„Ja, Vater!“
„Und Du hast keine von der Sorte geraucht?“ erkundigte sich seltsamerweise Don Lorenzo.
„Nein, Vater, meine kleine Sorte, Madrillena,“ antwortete Inesilla immer weiter weinend.
„Du sagst, Du liebst den Menschen – und er Dich auch?“ fragte da mit einem Mal, auf sonderbare Art, gleichsam scharf und weit in die Ferne hinaussehend, Don Lorenzo.
„Ja Vater – ich kann ohne Pablo nicht leben und, nach dem, was ich eben erfahren – so verrückt er war, seine Liebe muß ihn während der Krankheit halb wahnsinnig gemacht haben – liebt er mich auch.“
„So, das ist gut,“ sprach jetzt Don Lorenzo beinahe vergnügt zum größten Staunen Inesillas, „gehe auf Dein Zimmer, schicke den Lehrbuben in den Laden! Ich bin im Augenblick wieder da.“
Nach diesen Worten eilte der Vater Inesillas aus dem Laden zu den Tischen vor dem Café, ging auf Pablo zu, ergriff das Schächtelchen Cigaretten, das noch auf dem Tische lag, und steckte es eilig in die Tasche; dann faßte er den sonderbar steif dasitzenden Studenten am Arm, sah sorgfältig umher, ob auch nichts auf dem Boden lag, und führte den jungen Mann hinüber in sein
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_352.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2019)