Verschiedene: Die Gartenlaube (1888) | |
|
Er hatte auch erzählt, alles Mögliche – von der Operation und der Gefahr der Kranken, von Claudinens Muth und Opferwilligkeit – alles, nur nicht das, was sie wissen wollte. Und sie war diskret geblieben, sie hatte nicht weiter geforscht. Er war eine verschlossene Natur und hätte um alles in der Welt nicht einen Menschen in sein Herz sehen lassen; das war ein Geroldscher Familienzug, eine berechtigte Eigenthümlichkeit.
Während dieser Reminiscenzen holte sie ihren allermodernsten Hut hervor, den sie sich für das gestrige Fest neu angeschafft hatte, und dachte, indem sie ihn aufsetzte, an die Abreise heute früh und an die schreckliche Scene in der Kinderstube. Die kleine Leonie lag nach dem Bade schlafend im Bettchen. Da war Ihre Durchlaucht Prinzeß Thekla erschienen, fix und fertig zur Abreise, hinter ihr Frau von Berg, und hatte nichts mehr und nichts weniger verlangt, als – das Kind! Die alte Dörte hatte sich darauf mit ausgebreiteten Armen vor das Bettchen gestellt und in ihrem plattdeutschen Dialekt erklärt: das müßte der Herr ihr erst selber sagen, daß die Kleine mit der Großmutter abreisen solle! Durchlaucht vergaßen sich aber in diesem Augenblicke so weit, daß sie die alte Bäuerin höchsteigenhändig an die Seite zu schieben versuchten; allein so ein derbes Weib steht fest an seinem Platz, wie eine der Riesentannen im Walde draußen.
„Das mag mir Gott verzeihen,“ hatte die Alte gesprochen, indem sie den fürstlichen Händen energisch wehrte, „daß ich so den Respekt vergesse gegen eine, die zu unserm Durchlauchtigen Herzogshause gehört! Aber Er wird mir verzeihen; ich thue meine Pflicht, ich lasse meinem Herrn nichts stehlen.“
„Einfältige Person,“ hatte Frau von Berg gescholten, „wer will denn stehlen? Ihre Durchlaucht ist die Großmutter des Kindes.“
„Mein Herr mag’s mir selber sagen!“ war die Gegenrede gewesen.
„Ihr Herr ist ja nicht zu Hause; nehmen Sie Vernunft an!“
Aber auch das half nichts; Dörte hatte die Ellbogen in die Seite gestemmt und war schlagfertig auf ihrem Posten geblieben, und plötzlich war es ihr gelungen, den altmodischen Glockenzug zu erwischen; manch ungeduldiges Läuten mochte von dort schon erklungen sein, aber so wie heute wohl noch nie.
Die Kinderstubenklingel war im ganzen Hause bekannt; in diesem Zimmer hatten der alte Herr und die Frau krank gelegen und waren hier gestorben – kein Wunder, daß alle Welt gedacht, es so ein Unglück geschehen, und daß Lothar, der eben von seinem morgendlichen Ritt in die Felder zurückgekommen, allen voran den Korridor entlang gejagt war, Beate hinter ihm drein, und daß von allen Seiten die Dienerschaft hinzustürzte. Er hatte den Leuten gewehrt und hinter ihm und Beate hatte sich die Thür der Kinderstube geschlossen.
„Was geht hier vor?“ war seine erste Frage gewesen. Er schien seinen Augen nicht zu trauen, als er Ihre Durchlaucht erblickte, die sich beim Frühstück hatte entschuldigen lassen wegen ihrer Migräne und die nun dort stand mit hochrothem Gesicht und mit gebieterischer Stimme sprach:
„Ich wünsche meine Enkelin mit mir zu nehmen, und diese Person – –“
„Ah! Durchlaucht glaubten, ich sei so versunken in mein Bräutigamsglück, daß ich die Stunde der Abreise vergessen würde? Oder vielmehr, Durchlaucht wollten mein Nachhausekommen nicht abwarten und mit einem früheren Zug abreisen? Deshalb die Wagen vor der Auffahrt? Und Durchlaucht wünschen die Enkelin mitzunehmen“ – und seine Stimme hatte geklungen wie fernes Wettergrollen – „ohne meine Erlaubniß vorher einzuholen? Mit welchem Recht, wenn ich fragen darf?“
„Sie ist das Kind meiner Tochter!“
„Und das meine! Das Recht des Vaters dürfte doch wohl etwas über dem Rechte der Großmutter stehen, Durchlaucht.“
„Nur auf wenige Monate, Gerold,“ hatte die Prinzessin eingelenkt, die jetzt wohl zu der Einsicht kam, daß sie eine Thorheit in ihrem Groll begangen.
„Nicht auf eine Stunde!“ rief er mit energischer Betonung, und eine auffallende Blässe hatte sich auf sein Gesicht gelegt. „Dies Kind will ich bewahren vor dem Gifthauch, der da draußen weht und die reinsten Blüthen aussucht, um sie zu verderben; ihm will ich es ersparen, so früh schon Menschenverachtung lernen zu müssen. Meine Tochter soll erzogen werden, wie es einst Sitte war in dem Hause meiner Vorfahren, einfach, natürlich und – vornehm denkend; und hier wird es geschehen, hier in Neuhaus, Durchlaucht, unter meiner und meiner künftigen Gattin spezieller Aufsicht!“ Und er hatte rasch die Vorhänge des Bettchens zurückgeschlagen, in dem die Kleine mit erschrockenen Augen lag. „Wenn Durchlaucht Abschied nehmen wollen?“ – hatte er kühl hinzugesetzt.
Die Prinzessin war einen Augenblick zu der Wiege getreten, die Stirn des Kindes mit ihren Lippen berührend, und dann, ohne ein weiteres Wort, hinausgerauscht durch den Korridor nach der Halle, wo Prinzeß Helene, mit der Hofdame und dem Kavalier, der Mutter harrte. Die alte Durchlaucht war eingestiegen mit dem verbindlichsten Lächeln aus den Lippen; Beate, die sich tief verbeugte, hatte aber doch kaum ein herablassendes Kopfneigen für ihre wochenlange Gastlichkeit bekommen; Lothar saß den Durchlauchten gegenüber, wie damals, als er sie geholt. Als die Pferde anzogen, war aus zwei dunklen Mädchenaugen ein langer Blick über das alte Haus geglitten, so voll bitterer Enttäuschung, so voll schmerzlicher Reue, daß Beate trotz aller Erleichterung vor Mitleid das Herz geschwollen war. Arme, kleine, trotzige Prinzessin! – – –
Beate ertappte sich darüber, daß sie da noch immer vor dem Spiegel stand und an den Hutbändern knüpfte. Sie seufzte tief auf. Gottlob, gottlob, es war Friede im Hause! Dort oben wehte die kräftige Waldluft den letzten Hauch von dem durchdringenden Patchouligeruch aus dem Zimmer der Frau von Berg, und die Hausmädchen hatten längst die Scherben eines kostbaren Krystallglases fortgeräumt, das die alte Prinzessin gegen den Kachelofen geschleudert hatte in ihrem Jähzorn. In den Aesten der Linde flatterte ein Stückchen blaßblaues Band, das der Zugwind von dem Toilettentisch der Prinzessin Helene geweht, und auf dem Rasenplatze wurden Möbel und Betten gelüftet. Morgen würde wieder alles sein wie früher – gottlob!
„Verzeiht mir,“ sprach sie mit heller Stimme, als sie an paar Minuten später in das Wohnzimmer trat, wo Claudine auf der Estrade saß und durch das Fenster blickte, während Lothar gedankenvoll vor dem Bilde seines Vaters stand, um die ganze Zimmerlänge entfernt von seiner Braut. „Verzeiht, ich komme etwas spät; man hat Euch doch Kaffee servirt? Schön, ich sehe schon – nun ich wäre bereit zur Fahrt!“
Sie war etwas betroffen, als sie das sagte; sie hatte gemeint, das Brautpaar neben einander zu sehen, so recht zärtlich und liebevoll. Statt dessen ging Lothar erst jetzt gemessen aus seine Braut zu und bot ihr den Arm, wie auf einem Hofball: „Eine Fahrt in der schönen Luft wird Ihnen gut thun, Claudine.“
Wie? Sie nannten sich nicht einmal „Du!“ – Beate fing an, sich wirklich zu ärgern über diese formellen Menschen.
„Bitte, Lothar,“ erwiderte Claudine, „geben Sie Befehl, nach der Fahrt am Eulenhause zu halten; ich sehne mich nach Ruhe – ich fühle mich noch matt.“
„Ja natürlich! Wir müssen doch auch Joachim eine Brautvisite machen,“ war die Antwort.
Es war eine recht stille Fahrt. Als der Wagen den Abhang hinunter rollte dem Thale zu, aus dem die rothen Dächer des kleinen Badeortes schimmerten, lehnte sich Claudine seufzend zurück. Auch das noch! Sie hatte es geahnt, er wollte sie zeigen – als rehabilitirt.
Von dem Kurhause schallten die Klänge eines Walzers herüber, als sie ist die Allee einbogen. Auf dem freien Platze, in dessen Mitte der Musiktempel sich erhob, standen zahlreiche Tischchen mit roth und weißen Decken belegt. Die ganze vornehme Kurgesellschaft saß dort plaudernd an einer riesigen Tafel, die der schmachtende Oberkellner mit Argusaugen hütete, damit ja kein Unwürdiger sich an ihr niederlasse. Er pflegte zu diesem Zweck schon drei Stunden vor Beginn des Konzertes ein paar primitive Zettel hinzulegen, auf denen „Besetzt!“ zu lesen war, und die Stühle umzukippen. Und wenn nur zwei von der Gesellschaft kamen und wenn gewöhnliche Sterbliche auch nicht einen Stuhl zu erlangen vermochten, er zuckte doch die Achseln: „Bedaure, meine Herrschaften, jene Plätze sind bestellt.“
Heute aber war keiner der Sitze leer, und die Unterhaltung betraf, so lebhaft wie lange nicht, die gestrige Affaire in Altenstein. Die Mär von der Ungnade der Herzogin-Mutter gegen ihren früheren Liebling war auf aller Lippen, natürlich entstellt,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_358.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2016)